Das Mädchen von San Marco (German Edition)
mit dem Celia zusammen mit ihrem Vater nach England zurückkehren wollte, hatte Schiffbruch erlitten – das hatte er jedenfalls angenommen. Doch in Konstantinopel hatte Carew behauptet, er habe sie gesehen, sie sei auf wundersame Weise in den Harem des Sultans gelangt. Paul hatte nie gewusst, ob er Carew trauen durfte, aber sie waren ohnehin nie zu Celia gelangt – denn der Harem war eine abgeschlossene Welt –, und er, Paul, war mit all den ungelösten Fragen und seiner großen Trauer allein geblieben.
Vielleicht hatte Carew Recht? Er war sich selbst fremd geworden. In Venedig gab es keine Celia mehr, sie war auf ewig verloren, doch die Stadt war nach wie vor von ihrer schattenhaften Gegenwart erfüllt. Immer wenn er durch diese Straßen ging, überkam ihn das seltsame Gefühl, dass sie eines Tages um die Ecke biegen und vor ihm stehen würde. Dieses Wunschbild konnte er einfach nicht aus seinem Kopf verbannen. Ein paar Mal hatte er sogar geglaubt, sie zu sehen – wenn eine junge Frau mit heller Haut und goldblondem Haar über ein Buch oder eine Näharbeit gebeugt am Fenster saß. Der flüchtige Anblick einer Frau, die mit halb abgewandtem Gesicht in einer Gondel an ihm vorüberglitt, ließ sein Herz schneller schlagen. Aber dann drehten sich diese Frauen um oder sagten etwas, und Paul begriff schlagartig, dass keine von ihnen Celia war und dass er seine Liebste nie wiedersehen würde. In dieser Stadt fand er nur noch Feuchtigkeit und Moder.
Plötzlich bewegte sich etwas auf der anderen Seite der Brücke. Paul starrte angestrengt in den Schatten.
»Hast du das gesehen?«, hörte er Carews leise Stimme, »da links, unter den Bögen?«
Dann hatte Carew es also auch bemerkt. Paul wollte gerade antworten, als eine in einen Umhang gehüllte Männergestalt, deren Gesicht unter einer Kapuze verborgen war, sich aus dem Schatten löste und auf sie zukam. Am obersten Punkt der Brücke blieb der Mann stehen und fragte leise: »Paul Pindar?«
Paul bedeutete Carew mit einer Geste, stehen zu bleiben, und trat einen Schritt auf den Fremden zu.
»Wer will das wissen?«
Instinktiv hatte er die Hand an den Griff seines kurzen Dolches gelegt, aber der Mann hob beide Hände, um zu zeigen, dass er unbewaffnet war.
»Paul? Kennst du mich nicht mehr?«
Beim Sprechen zog der andere die Kapuze vom Kopf. Er kam Paul tatsächlich vage bekannt vor.
»Ich bin’s, Francesco.«
»Francesco?«, wiederholte Paul verblüfft. »Gütiger Gott! Bei meinem Leben, du bist es!«
Er lief dem Mann entgegen, und die beiden umarmten sich mitten auf der Brücke.
»Francesco! Wie lange ist es her?«
»Zu lange, viel zu lange!«
»Jahre.« Paul betrachtete das Gesicht seines alten Freundes mit ebenso viel Neugier wie Freude. »Francesco Contarini! Zehn Jahre haben wir uns doch gewiss nicht gesehen, oder länger?«
»Zehn, fünfzehn, wen kümmert das?«, fragte Francesco lächelnd. »Zu viele, um sie zu zählen.«
Die Männer standen sich gegenüber und musterten sich aufmerksam.
»Du hast dich überhaupt nicht verändert.«
»Du auch nicht.«
Beide wussten, dass der andere log. Um Pauls Nase und Augen hatten sich Blutergüsse gebildet, seine Haare und sein Bart waren von grauen Strähnen durchzogen. Francescos einst so hübsches Gesicht war schmal geworden, und das Leinen an seinem Hals und an den Ärmeln war schmuddelig und so fadenscheinig, als habe er seit Monaten die Kleidung nicht gewechselt. Dennoch lächelten beide anerkennend und behielten ihre Eindrücke für sich.
»Ich hörte, du seist eine Weile weg gewesen.« Francesco klopfte Paul ungeschickt auf die Schulter.
»Das stimmt. Ich habe einige Jahre in Konstantinopel gelebt. Die Levante-Kompanie hat mich hingeschickt, um sie bei Verhandlungen mit dem Großtürken zu vertreten. Es ging um Handelsrechte, du verstehst …«
»Aber natürlich: Paul Pindar, der große Kaufmann.« Francescos Schmeichelei war nicht ganz frei von Ironie. Beim Lächeln entblößte er schwarze Zahnstümpfe. »Warum überrascht mich das nicht? Du warst schon immer zu Höherem berufen. Von Fortuna begünstigt.«
»Fortuna …« Paul lächelte traurig. »Eine launische Geliebte, fürchte ich.«
»Ich habe die Sache mit Tom Lamprey und seiner Tochter gehört«, sagte Francesco mit einem teilnahmsvollen Nicken. »Es tut mir leid.«
»Danke«, entgegnete Paul. »Das ist lange her.« Um das Thema zu wechseln, fragte er mit künstlicher Munterkeit: »Und du, Francesco? Erzähl mir von dir.«
»Ich
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