Das Mädchen von San Marco (German Edition)
beobachtet hatte?
»Ja, Ehrwürdige Mutter?«
»Haben sie Euch gegen Euren Willen ins Kloster gesteckt?« Annetta spürte den unverwandten Blick der Äbtissin. »Mir wurde gesagt, dass sie das eigentlich nicht mehr tun sollen, aber …« – sie zuckte mit den Achseln – »nun, nur Ihr kennt die Antwort darauf. Bitte, sprecht frei heraus, Giovanna kann uns nicht hören. Betrachtet dieses Zimmer als eine Art Beichtstuhl.«
Als Annetta nicht sofort antwortete, sprach die Äbtissin weiter: »Wisst Ihr, mich hat man gegen meinen Willen hergebracht.« Sie warf Annetta einen fragenden Blick zu. »Hat man das mit Euch auch gemacht?«
»Beim ersten Mal war ich noch ein Kind, ich kannte nichts anderes«, antwortete Annetta, unsicher, ob sich die Äbtissin noch an ihre seltsame Geschichte erinnerte. »Aber beim zweiten Mal, nein, suora … ich meine, Ehrwürdige Mutter. Ich hatte darum gebeten, aufgenommen zu werden.«
»So?« Die alte Frau legte die Stirn in Falten, und zum ersten Mal fiel Annetta auf, wie glatt ihr Gesicht normalerweise war. Die Haut auf ihren Wangen sah aus wie die Schale eines Landapfels. Für eine Weile ruhte ihr Blick auf der jungen Frau, aber wie schon zuvor schien sie ziemlich schnell das Interesse an Annetta zu verlieren.
»Zu meiner Zeit gab es viele von uns. Die meisten Nonnen, mit denen ich hier aufgewachsen bin, sind inzwischen tot. Außer mir natürlich, aber auch ich werde sehr bald heimgehen. Sechzig Jahre sind eine lange Wartezeit, nicht?« Sie lächelte Annetta an. »Es gab nicht genügend Ehemänner für alle. Oder nicht genügend Ehemänner aus den richtigen Familien beziehungsweise vom richtigen Stand, denn natürlich hätten unsere Familien uns lieber tot gesehen als unter unserem Stand verheiratet, also steckten sie uns lieber hier ins Kloster, schlossen die Tür ab und warfen den Schlüssel fort.« Sie bemerkte Annettas Reaktion und lachte. »Macht nicht solch ein schockiertes Gesicht, suora . Ich bin alt. Ich sage, was ich denke. Es ist mein Recht – ganz egal, was der alte – wie nennen die jungen Nonnen sie? – der alte Sauertopf sagt.«
Bei diesen Worten konnte sich Annetta ein Lachen nicht verkneifen. Suor Bonifacias Augen funkelten. »Giovanna«, flüsterte sie, »erzählt mir alles.«
Sie lehnte sich zurück, und Annetta sah, dass sie langsam müde wurde, erschöpft von ihrem Gespräch. Sie schloss erneut die Augen und wandte ihr Gesicht den Sonnenstrahlen zu.
»Soll ich nun gehen, Ehrwürdige Mutter?«
»Hmm? Ja, ich denke, das wäre das Beste«, murmelte die alte Dame mit geschlossenen Augen. »Seid Ihr so gut und ruft nach Giovanna, wenn Ihr hinausgeht?«
Als Annetta an der Tür angelangt war, drehte sie sich um, um den üblichen Knicks zu machen, und bemerkte, dass die alte Nonne sie noch beobachtete. Sie saß kerzengerade auf ihrem Stuhl, die langen weißen Haare glänzten silbrig in der Sonne. Für einen Moment hatte Annetta den lebhaften Eindruck, dass sie plötzlich wieder ein junges Mädchen geworden war.
»Und suora …«
»Ja?«
»Ich denke, ich werde Suor Purificacion mitteilen, dass Ihr künftig mit Annunciata im Garten arbeitet. Sie wird für Euch etwas Nützliches zu tun finden.«
Annetta blickte sie fassungslos an und glaubte fast, sich verhört zu haben.
»Ehrwürdige Mutter?«
»Ich glaube, Ihr habt mich gut verstanden, suora .«
»Aber …«
»Das spirituelle Leben, das Ihr als Chornonne gewählt habt, ist nicht immer so … sagen wir … unterhaltsam, wie es sein könnte. Oder, um es anders auszudrücken: Sechzig Jahre sind eine zu lange Zeit, als dass man nur dasitzen und aus dem Fenster schauen sollte, ganz gleich, wie schön die Aussicht auch sein mag. Vertraut mir, ich weiß, wovon ich spreche.«
»Aber ich wusste nicht, dass ich –«
»Das ist dann alles, Suor Annetta.« Ein scharfer Tonfall hatte sich in die Stimme der Äbtissin eingeschlichen. »Ich glaube, es ist der beste Weg, um in diesem Fall allen gerecht zu werden. Immerhin bin ich noch die Äbtissin dieses Klosters. Zumindest sagt man das.«
Kapitel 16
»Und, wie fandet Ihr unsere höchst Ehrwürdige Mutter?«
Suor Annunciata, fröhlich, lebhaft und mit runden Wangen, die Haut gebräunt und gegerbt von den langen Stunden im Garten, beachtete Annettas verdrießliches Gesicht nicht, als diese sich am folgenden Morgen zum Dienst im Garten meldete.
»Sie ist bei guter Gesundheit, suora« , antwortete Annetta mürrisch, »in Anbetracht der Umstände.«
»Ach,
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