Das Mädchen von San Marco (German Edition)
Freunde, die ihr halfen.« Elena schüttelte den Kopf. »Aber wie passt Bocelli dazu? Und warum war er so erpicht darauf, sie loszuwerden? Das verstehe ich nicht. Zwei Pferde, Maryam …« Zwei Wochen nach dem Vorfall hatte sich Elenas Erstaunen immer noch nicht gelegt. »Das ist mehr, als uns der Sultan gegeben hat, nachdem wir im Haus der Glückseligkeit aufgetreten waren.«
»Ich habe von Bocelli ein hohes Entgelt bekommen, das stimmt. Der Mann ist ein Narr.« Aber noch während Maryam die Worte aussprach, verspürte sie einen Anflug von Unbehagen. War der Preis dafür, dass sie die Meerjungfrau und ihr Kind mitnahmen, nicht tatsächlich zu hoch gewesen? In den Dörfern hatte sich etwas verändert, seit sie dieses Meereswesen bei sich hatten. Anfangs konnte sie es nicht genau fassen, es war mehr ein Gefühl, wie ein Windstoß oder ein Staubteufel, der eine ausgestorbene Straße hinuntertanzt. Doch dann, vor einigen Nächten, hatten sie außerhalb des Lagers Essen vorgefunden: einen Korb Eier, etwas Obst, kleine Laibe ungesäuerten Brotes, einen Zweig Oliven. Jemand hatte alles sorgsam auf Blättern ausgebreitet. Hatte sie es sich nur eingebildet, oder war es wirklich weniger ein Geschenk als vielmehr eine Art Opfergabe gewesen? Vielleicht war Bocelli doch nicht solch ein Narr. Maryam tastete in der Tasche ihrer Lederjacke nach dem silbernen Amulett, und ihre starken Finger schlossen sich um das Bild der Meerjungfrau, das er ihr in dem Pestdorf gezeigt hatte. Sie würde vermutlich Elena und den anderen erzählen müssen, was Bocelli gesagt hatte, aber jetzt noch nicht …
»In dieser Gegend glaubt man schon immer, dass Meerjungfrauen Glück bringen. Man findet diese Amulette fast überall entlang der Küste … Ich bin überrascht, dass du noch nie eines gesehen hast.
Maryam konnte förmlich den Zwiebelgestank aus seinem Mund riechen. Aber eine echte Meerjungfrau …! Niemand weiß etwas mit ihr anzufangen, sie haben sogar Angst, sich ihr zu nähern. Sie hätten sie mittlerweile getötet, wenn sie nicht glauben würden, dass ihnen das noch viel schlimmeres Unheil bringt …« Nun, wie es aussah, würden sie und die gesamte Truppe alles Glück benötigen, das sie bekommen konnten, um heil nach Venedig zu gelangen.
Elena blickte in den Himmel. Da der Mond nicht schien, leuchteten die Sterne am Himmelszelt so hell und in solcher Anzahl, dass sie das schwindelerregende Gefühl überkam, als würde sie zu ihnen hinaufgezogen. Das war der Moment, vor dem sie sich gefürchtet hatte, aber sie wusste, dass sie jetzt sprechen musste.
Sie schloss die Augen. »Maryam?«
»Ja?«
»Die anderen glauben, dass sie Unglück bringt.«
» Un -glück?«
»Sie wollen nichts mit ihr oder ihrem Kind zu tun haben, sie halten sich fern, ist dir das nicht aufgefallen?«
»Hmm.« Maryam brummte nichtssagend.
»Und als ob das nicht schon schlimm genug wäre, haben wir auch noch so wenig Arbeit. Die Dörfler scheinen …« Elena rang nach Worten. »Ach, die Leute sind irgendwie seltsam. Ich kann es nicht richtig erklären.«
Dann war es also auch Elena aufgefallen.
»Sie sind arm, das ist alles«, entgegnete Maryam schroff. »Es ist meine Schuld. Wir hätten nie diesen Weg nehmen dürfen.«
»Hör mal, sie wird irgendwie für ihren Unterhalt aufkommen müssen. Ich weiß, dass du das nicht hören willst, aber –«
»Warum sagst du es dann?«, fuhr Maryam sie scharf an. Elena zuckte zusammen, aber sie sprach unbeirrt weiter.
»Die anderen sagen, dass sie für uns eine Last sind, sie und das Kind.«
»Und du? Was sagst du?« Als Elena nicht antwortete, fügte Maryam hinzu: »Wir sind dafür entlohnt worden, dass wir sie aufnehmen, großzügig entlohnt, wie du selbst gesagt hast.«
»Sie kann nicht arbeiten, wahrscheinlich wird sie das auch nie können. Wir haben nicht genug zu essen …«
»Aber sie isst wie ein Spatz!«
»… und wir können das Pferd oder die Ziege nicht schlachten«, fuhr Elena geduldig fort. »Wenn du wenigstens in Erwägung ziehen würdest …«
»Was?«
Elena öffnete die Augen und zwang sich zu den nächsten Worten.
»Wir haben schon darüber gesprochen.«
»Sie zur Schau stellen? Nein, auf keinen Fall.«
»Ich weiß, du hast deine Gründe …«
»Ja, ich habe meine Gründe. Und du – gerade du, Elena – solltest sie kennen. Du bist nicht besser als diese kleine Zecke Bocelli.«
Einige Minuten lang lagen sie nebeneinander, ohne zu sprechen, aber nach einer Weile spürte Maryam, wie
Weitere Kostenlose Bücher