Das Mädchen von San Marco (German Edition)
Das Meereskind war als Monstrosität ein Vermögen wert. Aber ein Leben als solche blieb ihm womöglich besser erspart.
Unter dem hohen Firmament schauten sich die Riesin und das Kind lange in die Augen. Eine andere Frau hätte in diesem Augenblick vielleicht zu Gott gebetet, zur Mutter Gottes und allen Heiligen, und um Schutz gefleht, aber Maryam hatte in ihrem Leben nicht gelernt, allzu sehr an die Wirksamkeit von Gebeten zu glauben. Gott war, wie jeder Mann, ein ferner Peiniger, unerreichbar für eine Frau wie sie.
Kapitel 20
Als sich Maryam hinlegte, um endlich zu schlafen, hatte sie wieder den Traum.
Sie war fünfzehn, und sie führten sie in die Bärengrube. Hinter einer Palisade aus angespitzten Stöcken konnte sie die Hunde wütend knurren hören.
Zwei Jahre zuvor – sie hatte bereits die Größe und das Gewicht eines stämmigen jungen Mannes erreicht –, hatten ihre Eltern ihre sonderbare Tochter freudig an den Erstbesten verkauft, der anbot, sie ihnen abzunehmen. Der Mann, ein fahrender Händler aus dem Süden, dessen Name sie nie erfuhr, hatte behauptet, er wolle sie zu seiner Frau machen, aber es wurde Maryam bald klar, dass er das ganz und gar nicht vorhatte.
Nachdem der Reiz, es mit einer Kindsbraut von der Größe eines Kerls zu treiben, verflogen war, machte sich der Händler daran, sie an alle Freunde, Nachbarn und Passanten auszuleihen, die für das Privileg bezahlen wollten. So begann für ihren Besitzer ein recht bequemes Leben. Er gab seinen Handel mit Jahrmarktsspielzeug und billigem Plunder auf und kaufte stattdessen einen Stand, den er auf den verschiedenen Messen und Märkten aufstellte, die sie besuchten.
Der Marktstand war ein einfacher Bretterverschlag, nicht viel mehr als eine Sichtblende mit einem Strohlager dahinter, das Maryam mit seinen Kunden teilte. Nach ein paar bitteren Jahren wurde der Händler, der allmählich in die Jahre kam, eines schönen Morgens von dem Verlangen gepackt, zu seiner richtigen Frau und seinen Kindern auf den Peloponnes zurückzukehren. Maryam, die für ihn nun nicht mehr von Nutzen war, hätte er ohne große Skrupel ihrem Schicksal überlassen, obwohl sie noch nicht einmal ein paar soldi ihr Eigen nannte. Wie es der Zufall wollte, war jedoch sein letzter Kunde der Anführer einer umherziehenden Gauklertruppe, und als die Truppe am folgenden Morgen weiterzog, wurde Maryam aufgefordert mitzugehen. Sie war wieder einmal verkauft worden.
Mit fünfzehn war Maryam noch ein ordentliches Stück größer als mit dreizehn und überragte sogar den größten Mann. Sie war eine bullige junge Frau mit einem gewaltigen Brustkorb, Unterarmen wie zwei Schinken, Händen und Füßen wie Holzteller und wirkte mit ihren schwarzen Haaren, den kohlschwarzen Augen und dem Oberlippenbart wild und ungebärdig wie ein heranwachsender Junge.
Als der Anführer der Truppe sie zum ersten Mal sah, wusste er, dass er sein Geld mühelos wieder hereinholen würde. Er wollte sie unter dem Namen »Tochter des Minotaurus« als Missgeburt zur Schau stellen und fing auch gleich damit an, in dem vollen Wissen, dass dieses Mal nicht nur die Männer bezahlen würden.
In den nächsten Jahren führte Maryam ein noch schrecklicheres Leben als in den zwei Jahren zuvor. Wie der Händler, der sie verkauft hatte, folgte die Gauklertruppe – eine Familie aus Genua namens Grissani – immer derselben Route. Der Unterschied war, dass die Jahrmärkte und die Entfernungen größer waren, und statt in einem Marktstand hauste Maryam dieses Mal in einem Käfig. Es war ein richtiger Käfig aus Eisenstäben, dem noch die Spuren, die Gerüche und sogar der eingetrocknete Kot des kürzlich verstorbenen Tanzbären der Truppe anhafteten. Jeden Tag musste sie viele Stunden lang darin sitzen. Ein Paar Rinderhörner waren an ihrem Kopf befestigt, und die Leute bezahlten einige Münzen für das Vergnügen, sie auslachen, Steine und faules Obst nach ihr werfen oder mit Stöcken an ihr herumstochern zu dürfen.
Nach einer Weile waren sie in eine Gebirgsgegend gelangt, in der kein Griechisch mehr gesprochen wurde und auch nicht die Sprache der osmanischen Herrscher, sondern ein kehliger Dialekt, den Maryam anfänglich nicht verstand. Die von Pinienwäldern umgebene Stadt war arm und viel kleiner als ihre gewöhnlichen Reiseziele. Die einheimischen Frauen zeigten sich kaum und die Kinder starrten sie nur aus den Fenstern heraus an.
Wie es ihre Gewohnheit war, schlug die Truppe vor der Stadt ihr Lager auf, am
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