Das Mädchen von San Marco (German Edition)
Elena ihre dünne, knochige Hand in ihre schwielige Pranke schob und sie dort ließ, bis sich Maryam entspannte.
»Es muss nicht so sein, wie … wie …« Elena fiel es schwer, die Worte auszusprechen, »… wie es bei dir war.«
»Meinst du?«
Maryam starrte ausdruckslos in den Nachthimmel. Nach all den Jahren verblüffte sie Elenas Ahnungslosigkeit immer noch. »Sie haben der Mutter die Beine gebrochen, falls du das nicht bemerkt haben solltest, Elena.« Sie schüttelte den Kopf, als ob sie einen hartnäckigen Gedanken loswerden wollte, und zog ihre Hand fort. Ohne dass sie es merkte, strich sie mit den Fingern an ihren nackten Unterarmen auf und ab, fühlte die vertrauten Male, mit denen diese übersät und verunstaltet waren – wulstige Narben in der Größe von Einschusslöchern. »Du hast keine Ahnung, wozu Männer fähig sind.«
In dieser Nacht konnte Maryam nicht schlafen. Die Gedanken wirbelten durch ihren Kopf wie tanzende Derwische, sie drehten und drehten sich, bis sie glaubte, verrückt zu werden.
Als Anführerin einer Frauentruppe war sie es durchaus gewohnt, das ganze Gewicht der vielen Sorgen und Nöte, die die Gauklerinnen belasteten, auf den eigenen Schultern zu tragen. Es war ihr zur zweiten Natur geworden, immer auf der Hut zu sein, im Voraus zu wissen, was alle anderen um sie herum dachten, hier einen Blick, dort eine Geste zu deuten, zu zögern, zu beschwichtigen, bereit zu sein, augenblicklich weiterzuziehen, falls sie eine grundlegende Veränderung in der Atmosphäre spürte. Seit sich die Truppe vor nunmehr sieben Jahren gebildet hatte, musste sie das unerhörte Vergehen wettmachen, das darin bestand, dass sie Frauen waren, die von keinem Mann in Schach gehalten und kontrolliert wurden. Doch noch nie hatten sie so üble Vorahnungen geplagt wie in den letzten Tagen.
Schon seit ihrer Abreise aus Messina quälte Maryam das Gefühl einer drohenden Gefahr. Lag es einfach nur daran, dass das Reisen auf dem Land immer gefährlicher war als in den Städten? Die Leute waren unfreundlicher, abergläubischer, eher geneigt, sich gegen sie zu wenden. Maryam kannte nur zu gut die Folgen einer Fehleinschätzung. Unruhig wälzte sie sich auf ihrer Decke hin und her.
In den finsteren Hügeln hinter dem Lager bellte noch immer der Schäferhund. In den Zelten war Ruhe eingekehrt, auch Elena war endlich neben ihr eingeschlafen. Das trug zu Maryams Unruhe bei, denn nur selten ließen die beiden Frauen ihre Meinungsverschiedenheiten vor dem Einschlafen ungeklärt. Sie hörte das Pferd, das in seinem Futterbeutel rumorte, und die Ziege, die an ihrem Pfosten raschelte. Normalerweise wirkten diese leisen Geräusche beruhigend auf sie, aber nicht in dieser Nacht. Sie stemmte ihren plumpen, massigen Körper langsam und mühevoll hoch und versuchte dabei, nicht auf die Schmerzen in den Gelenken und die Taubheit in den Fingern zu achten, die sie in letzter Zeit fast ununterbrochen plagten.
Auf ihrem behelfsmäßigen Lager hinten im Wagen schlief Thalassa, die Meerjungfrau. In der Hand hielt sie den rosaroten Samtbeutel wie einen Talisman umklammert. Das Kind lag so still neben ihr, dass Maryam zuerst annahm, es sei ebenfalls eingeschlafen. Sie wollte sich gerade abwenden, als sie einen kleinen Schimmer wahrnahm und sah, dass seine Augen geöffnet waren und in den Nachthimmel blickten.
Ein Geräusch durchbrach die Stille und ließ Maryam aufhorchen. Sie richtete sich auf. Es war nur das Pferd, das leise schnaubte, doch plötzlich sah sie, dass auch das Kind das Köpfchen langsam zu dem Tier drehte. Es hatte die kleine Stirn in Falten gelegt, als ob dies das erste Geräusch im Universum sei, das es in seinem kurzen Leben wahrnahm. Als sich das Kind bewegte, löste sich ein Teil der Tuches, in das es gehüllt war, und entblößte den unteren Teil seines Körpers. Die beiden winzigen Beine waren miteinander verwachsen und zwei perfekte Füßchen spreizten sich nach außen. Maryam streckte den Zeigefinger aus und spürte, wie sich die winzige Faust des Kindes darum schloss. Die Berührung war so zart, dass sich Maryams Herz schmerzlich zusammenzog.
War es richtig gewesen, die beiden aufzunehmen? Wahrscheinlich nicht. Sie seufzte. Aber wie hätte sie unter den gegebenen Umständen nein sagen können? Trotzdem wurde ihr das Herz schwer bei dem Gedanken, was noch alles vor ihnen liegen mochte.
Wie standen die Chancen, dass das Kind überleben würde? Sicherlich nicht gut, und vielleicht war es sogar besser so.
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