Das Mädchen von San Marco (German Edition)
murmelte er. »Lasst Ambrose das machen. Er kennt eine der Nonnen dort. Sie malt Bilder. Er sollte sie eigentlich aushorchen, als wir heute dort waren.« Schlagartig wurde ihm bewusst, dass er völlig vergessen hatte, Ambrose zu fragen, ob die malende Nonne Informationen gehabt hatte.
»Ambrose Jones?« Constanza starrte ihn an. »Dieser eingebildete, aufgeblasene, flachsköpfige Pavian?« Sie suchte offensichtlich nach möglichst starken Worten, um ihre Verachtung zum Ausdruck zu bringen. »Ihr glaubt wirklich, dass man Signor Jones vertrauen kann?«
»Ich kann ihn so wenig ausstehen wie Ihr. Aber es hat sich herausgestellt, dass er für die Levante-Kompanie arbeitet, er sammelt Informationen für sie. Er und Pindar kennen sich seit vielen Jahren. Es wäre auf jedem Fall in Jones’ Interesse, Paul zu helfen.«
»Seid Ihr Euch da sicher? Worin genau bestehen Signor Ambroses wahre Interessen?«, bemerkte Constanza trocken. » Ihr mögt ihm vertrauen, ich tue das nicht. Glaubt mir, ich kenne solche Männer. Es gibt nur eines, was sie antreibt: Avarizia . Gier. Wer weiß, für wen er sonst noch herumschnüffelt. Was sammelt er noch? Das sind die Fragen, die Ihr Euch stellen solltet. Bestimmt sammelt er nicht nur für die Levante-Kompanie oder für Pauls alten Kaufmannsfreund. Nein, nein, es muss einen anderen Weg geben.« Sie packte Carew erregt am Arm. Er hatte sie noch nie so aufgewühlt erlebt. »Ihr müsst zurück ins Kloster, John! Ihr müsst noch einmal auf die Insel und mit der Nonne sprechen.«
Carew entzog ihr seinen Arm, aber er widersprach nicht sofort. Da wusste sie, dass er sich nicht weigern würde.
»Versprecht mir nur eines: Klettert nicht über Mauern.« Ihre Stimme war wieder sanfter geworden. »Um Himmels willen, John Carew, benutzt dieses eine Mal den Haupteingang.«
Carew zwang sich zu einem Lächeln. »Und das mir mit meiner lebenslangen Erfahrung im Erklimmen von Mauern.« Als er Constanzas besorgte Miene sah, versuchte er sie zu beschwichtigen. »Constanza, ich werde einen Weg finden. Aber bis dahin –«
»Bis dahin werde ich, wenn ich heute zur Giudecca gehe, auch die eine oder andere Frage stellen.«
»Und wenn Ihr etwas herausfindet, was immer es ist …«
»Werde ich Euch benachrichtigen.«
Carew verabschiedete sich, und Constanza blickte ihm nach. Seine Schritte machten keinerlei Geräusch auf den nackten Holzdielen. Sie fühlte sich auf einmal sehr niedergeschlagen, sehr allein in dem leeren Zimmer. Sie goss sich etwas Wein ein, und ihr Blick fiel auf die tarocchi -Karten, die mit dem Bild nach unten auf dem Tisch lagen. Eine für Carew, eine für sie. Sie streckte die Hand aus, um sie aufzunehmen …
Und zum ersten Mal zögerte sie.
Zum ersten Mal spürte sie einen leisen Schauer der Vorahnung.
Sie schüttelte sich. Eine Närrin war sie! Es war doch nur ein Spiel, weiter nichts, ein Spiel zum Zeitvertreib!
Mit einer raschen Bewegung drehte sie beide Karten um. Sie konnte sich nicht mehr erinnern, welche Karte Carew für sich gezogen hatte und welche für sie. Vor ihr lagen, wie sie befürchtet hatte, dieselben Karten wie beim letzten Mal.
Die Liebenden.
Der Tod.
Aber welche Liebenden? Und wessen Tod?
Zitternd schob Constanza die Karten in den Stapel zurück.
Kapitel 26
Die Nonne, die am folgenden Tag Annetta in den Empfangsraum rief, war nicht die Pförtnerin.
»Ihr habt einen Besucher, suora .«
Annetta blickte überrascht von den Farbpinseln auf, die sie gerade in Suor Veronicas Atelier auswusch. Sie erkannte in Suor Caterina sofort eine jener Nonnen, die sie insgeheim contesse nannte – adlige Frauen ohne jegliche Begabung für das kontemplative Leben. Suor Bonifacia, die Äbtissin, gehörte, wie Annetta kürzlich festgestellt hatte, auch dazu, ebenso Suor Purificacion und mindestens ein weiteres halbes Dutzend anderer Klosterfrauen. Angesichts der Berühmtheit und Schönheit des Kräutergartens und der vergleichsweise ungezwungenen Lebensweise – manche würden es Nachlässigkeit nennen –, die Suor Bonifacia zuließ, sowie der vielen Ausnahmen von den üblichen Klosterregeln, deren sich das Kloster wegen der gewerblichen Gärten erfreute, war es bei den Familien des venezianischen Adels, die weibliche Familienmitglieder unterbringen wollten, eine beliebte Wahl.
Als Annetta nach ihrer Zeit in Konstantinopel ins Kloster zurückgekehrt war, hatte Suor Caterina mit ihrem glänzenden Haar und ihren erlesenen Kleidern auf sie durch und durch wie eine
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