Das Mädchen von San Marco (German Edition)
Geschenk zu bestaunen, das die englischen Kaufleute dem Sultan an diesem Nachmittag übergeben hatten. Ich machte mir solche Sorgen! Ich wusste, dass die Valide nach Celia geschickt hatte und dass die beiden ein langes Gespräch miteinander geführt hatten, aber ich wusste zu diesem Zeitpunkt nicht, worüber sie gesprochen hatten. Celia wirkte anders als sonst, irgendwie … ruhelos. Sie drückte die Hand gegen die Seite, als hätte sie Schmerzen. Da wusste ich, dass etwas passiert war. Zuerst wollte sie es mir nicht erzählen. Die arme Celia, sie kannte mich gut, sie wusste ganz genau, wie ich reagieren würde. ›Die Valide meint, ich kann ihn ein allerletztes Mal sehen‹, flüsterte sie mir zu. ›Heute Abend, am Vogelhaustor.‹
›Was?‹, fragte ich, und mir schlug das Herz bis zum Hals. ›Das hat sie zu dir gesagt?‹
›Wenn ich ihn nur noch einmal sehen könnte, sein Gesicht sehen, seine Stimme hören, dann wäre ich so glücklich.‹
Und dann zeigte sie mir das Kompendium.
›Ich habe ihren Segen.‹ Den Segen der Valide, einen Mann zu sehen und zu sprechen! Armes verblendetes Mädchen! Ich wusste, dass es eine Falle war. Ich habe es ihr gesagt, aber sie wollte nicht auf mich hören. ›Sie stellt dich auf die Probe, merkst du das nicht?‹ Ich schrie fast. ›Damit sie sieht, ob sie sich auf dich verlassen kann. Loyalität bedeutete der Valide alles. Wenn du gehst, hast du versagt!‹
›Aber das ist meine Chance‹, sagte sie immer wieder, ›das ist meine einzige Chance. Ich muss sie nutzen. Das Vogelhaustor, heute Abend. Sieh her, ich habe den Schlüssel.‹ Sie trug ihn an einer Kette um den Hals und hielt ihn hoch, damit ich ihn sehen konnte. ›Sie sagt, er wird da sein …‹ Sie muss gewusst haben, dass die Valide ihr in dieser Nacht eine Falle stellen würde. Später fand ich heraus, dass es tatsächlich so war. Mir war nur eines vollkommen klar: Wenn sie zu diesem Tor ging, würde sie nie mehr zurückkommen. Nach allem, was wir durchgemacht hatten, um zusammenzubleiben! Ich fühlte mich, als würde ich jeden Moment wahnsinnig werden. ›Geh nicht, lass mich nicht allein, bitte nicht …‹ Ich weinte, weil ich so große Angst vor der Zukunft hatte. ›Bitte nicht! Ich glaube nicht, dass ich hier ohne dich weiterleben kann …‹ Aber sie wollte nicht auf mich hören.
Die Abenddämmerung brach an. Über uns war ein kleines Stückchen Himmel sichtbar. Ich erinnere mich, wie das Licht immer schwächer wurde, wie das Rosarot des Himmels zu einem Grauton verblasste. Ich erinnere mich, wie die ersten Fledermäuse über uns hinwegschwirrten. Wir saßen lange Zeit in dem verlassenen Zimmer eng beieinander und hielten uns umschlungen.
›Ist es Zeit?‹, fragte ich immer wieder. ›Ist es Zeit?‹
Und jedes Mal schaute sie zum Himmel und sagte zu mir: ›Nein, noch nicht.‹
Sie war glücklich, glaube ich …« Annetta konnte nicht mehr weitersprechen. Als sie sich wieder gefasst hatte, fuhr sie fort: »Ich war diejenige, die sich fühlte, als ginge sie dem Tod entgegen. Und dann war es so weit. Ich erinnere mich, wie sie auf der Schwelle der kleinen Kammer stand. Ich erinnere mich, dass ich dachte, sie sieht aus wie ein Vogel, der gleich losfliegen wird.
›Sei glücklich um meinetwillen, Annetta‹, sagte sie. Ihr Gesicht strahlte. Und dann tat sie etwas Merkwürdiges. Sie nahm ein Blatt Papier aus ihrem Beutel und gab es mir. ›Das ist für Paul‹, sagte sie – das war der Name ihres Kaufmanns –, ›versprich mir, dass du einen Weg finden wirst, es ihm zu geben.‹« Annetta brach ab, als fiele es ihr zu schwer, diese Worte auszusprechen. Sie holte tief Luft.
»Ich habe es immer noch.« Sie fasste in ihren Beutel, holte das Blatt Papier heraus, faltete es behutsam auseinander und hielt es in das trübe Licht der Morgendämmerung, damit Eufemia es sehen konnte. »Es ist ein Gedicht. Ein Liebesbrief, wenn man so will. Und gleichzeitig die Antwort auf die Frage, die ich mir schon immer gestellt hatte. Ich glaube, Celia wusste im Grunde ihres Herzens die ganze Zeit über, dass die Valide ihr eine Falle stellen wollte. Sie nahm das Gedicht nicht mit, weil sie wusste, dass ihr Liebster nicht am Vogelhaustor sein würde. Dass, wenn sie den Schlüssel benutzen und auch nur einen Fuß aus dem Vogelhaustor hinaussetzen würde, wie die Valide ihr geraten hatte, auf der anderen Seite nicht Paul und die Freiheit auf sie warten würden, sondern die Eunuchen mit ihren Krummsäbeln, begierig
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