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Das Mädchen.

Das Mädchen.

Titel: Das Mädchen. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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sie sich denken können. Also trug Trisha statt dessen etwas Sonnenschutzlotion auf -vielleicht hielt das wenigstens die Gnitzen ab - und packte dann alles wieder in ihren Rucksack. Sie machte nur einen Augenblick Pause, um die Twinkies zu begutachten, dann warf sie die Packung zu dem übrigen Zeug. Normalerweise liebte sie Twinkies - wenn sie in Petes Alter kam, würde ihr Gesicht vermutlich ein einziger großer Pickel sein, falls sie nicht lernte, auf Süßes zu verzichten -, aber vorläufig war sie alles andere als hungrig.
    Außerdem kommst du vielleicht nie in Petes Alter, sagte die beunruhigende innere Stimme. Wie konnte man bloß eine so kalte und beängstigende Stimme in sich haben? Eine solche Verräterin an der eigenen Sache? Vielleicht kommst du nie aus diesem Wald heraus.
    »Halt die Klappe, halt die Klappe, halt die Klappe«, zischte sie und verschloß den Rucksack mit zitternden Fingern. Als sie damit fertig war, wollte sie aufstehen ... und hielt dann inne, während ein Knie weiter auf dem weichen Boden neben dem Farn ruhte, hob den Kopf, als wittere sie wie ein Rehkitz auf seinem ersten Ausflug, der es von der Seite der Mutter weggeführt hat. Aber Trisha witterte nicht; sie lauschte angestrengt und konzentrierte sich ganz auf diese eine Sinneswahrnehmung.
    Zweige, die in der leichten Brise rauschten. Sirrende Mük-ken (blöde, fiese alte Dinger). Der Specht. Das weit entfernte Krächzen einer Krähe. Und an der äußersten Hörgrenze das leise Brummen eines Flugzeugs. Keine Stimmen vom Wanderweg. Keine einzige Stimme. Es war, als sei der Weg nach North Conway plötzlich verschwunden. Und während das Motorengeräusch des Flugzeugs ganz verhallte, gestand Trisha sich die Wahrheit ein.
    Sie stand langsam auf. Ihre Beine fühlten sich schwer an, ihr Magen fühlte sich schwer an. Nur ihr Kopf fühlte sich merkwürdig leicht an: ein mit Gas gefüllter Ballon, der an ein Bleigewicht gefesselt war. Sie ertrank plötzlich in Einsamkeit, litt unter dem hellen und trotzdem bedrückenden Bewußtsein, ein Lebewesen zu sein, das von seinesgleichen verstoßen worden war. Sie war irgendwie ins Aus geraten, hatte das Spielfeld verlassen und befand sich jetzt an einem Ort, an dem die gewohnten Spielregeln nicht mehr galten. »He!« kreischte sie. »He, irgend jemand, hört ihr mich? Hört ihr mich? He!« Sie machte eine Pause und betete darum, daß eine Antwort kommen würde. Aber die Antwort kam nicht, und so sprach sie endlich das Schlimmste aus: »Hilfe, ich hab' mich verlaufen! Hilfe, ich hab' mich verlaufen!« Nun konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten, konnte sich nicht länger weismachen, sie habe diese Situation unter Kontrolle. Ihre Stimme zitterte, war erst die schwankende Stimme eines kleinen Mädchens und wurde dann fast zum Schreien eines Babys, das vergessen in seinem Kinderwagen liegt. Und dieser Laut ängstigte sie mehr als alles andere bisher an diesem schrecklichen Morgen: Der einzige Menschenlaut im Wald war ihre weinerliche, kreischende Stimme, die um Hilfe rief, weil sie sich verlaufen hatte.

DRITTER DURCHGANG

Sie schrie vielleicht eine Viertelstunde lang; manchmal legte sie die Hände um den Mund, um ihre Stimme in die Richtung zu lenken, in der sie den Weg vermutete, meistens jedoch stand sie einfach neben den Farnen und kreischte. Sie stieß einen letzten so gellend lauten Schrei aus - keine Worte, nur ein schriller Vogelschrei, aus dem Wut und Angst sprachen -, daß ihr die Kehle davon weh tat, dann setzte sie sich neben ihren Rucksack, schlug die Hände vors Gesicht und weinte. Sie schluchzte etwa fünf Minuten lang (genau ließ sich das unmöglich sagen, denn ihre Uhr lag zu Hause auf ihrem Nachttisch, ein weiterer geschickter Schachzug der Großen Trisha), und als sie aufhörte, fühlte sie sich etwas besser ... wenn nur die Insekten nicht gewesen wären. Die Insekten waren überall, krochen und sirrten und brummten, versuchten ihr Blut zu trinken und ihren Schweiß zu schlürfen. Die Insekten machten sie ganz verrückt. Trisha kam wieder auf die Beine, wedelte mit ihrer Red-Sox-Kappe durch die Luft, ermähnte sich, nicht nach ihnen zu schlagen, und wußte, daß sie welche erschlagen würde - und das schon bald, wenn sie ihr weiter so zusetzten. Sie würde sich nicht mehr anders helfen können.
    Weitergehen oder bleiben, wo sie war? Sie wußte nicht, was am besten war; sie war jetzt zu verstört, um noch halbwegs vernünftig denken zu können. Ihre Füße nahmen ihr die

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