Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Mädchen.

Das Mädchen.

Titel: Das Mädchen. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
Vom Netzwerk:
wurde. Ein irrationaler Teil ihres Ichs rechnete tatsächlich damit, der Boden unter ihren Füßen werde kippen und sie über die Felskante schleudern. »Ich bin okay«, sagte sie, noch immer leise und schnell. Sie leckte sich die Oberlippe und schmeckte feuchtes Salz. »Ich bin okay, ich bin okay.« Das wiederholte sie wieder und wieder, aber trotzdem dauerte es noch drei Minuten, bis sie ihre Arme dazu überreden konnte, den von ihnen verzweifelt umklammerten Eschenstamm wieder loszulassen. Als ihr das endlich gelang, trat Trisha zurück, weg vom Abgrund. Sie rückte ihre Kappe zurecht (und drehte sie dabei unbewußt um, so daß der Schirm nach hinten zeigte) und blickte über das Tal hinaus. Sie sah den Himmel, an dem jetzt tiefe Regenwolken hingen, und sie sah etwa sechs Billionen Bäume, aber sie sah kein Anzeichen menschlichen Lebens - nicht einmal den Rauch eines einzigen Lagerfeuers.
    »Trotzdem fehlt mir nichts - ich bin okay.« Sie trat einen weiteren Schritt vom Abgrund zurück und stieß einen kleinen Schrei aus, als etwas (Schlangen, Schlangen)
    die Kniekehlen ihrer Jeans streifte. Natürlich waren das nur Büsche. Weitere Scheinbeerensträucher, die Wälder waren voll von ihnen, würg-würg. Und die Insekten hatten sie wiedergefunden. Sie waren dabei, erneut eine Wolke zu bilden: Hunderte von winzigen schwarzen Punkten, die vor ihren Augen tanzten, nur daß die Punkte diesmal größer waren und wie schwarze Rosenknospen aufzubrechen schienen. Trisha hatte gerade noch Zeit, sich zu sagen: Ich werde ohnmächtig, so verliert man das Bewußtsein, dann fiel sie rückwärts in die Sträucher und verdrehte die Augen, bis das Weiße sichtbar war, während die Insekten als schimmernde Wolke über ihrem schmalen, blassen Gesicht hingen. Wenige Augenblicke später setzten die ersten Stechmücken sich auf ihre Lider und hielten Ernte.

VIERTER DURCHGANG, ERSTE HÄLFTE

Mutter stellte Möbel um - das war Trishas erster wacher Gedanke. Ihr zweiterwar, Dad sei mit ihr zu Good Skates in Lynn gefahren, und sie höre Kinder mit Inline- Skates auf der alten Bahn mit den erhöhten Kurven vorbeirasen. Dann klatschte ihr etwas Kaltes auf den Nasenrücken, und sie öffnete die Augen. Ein zweiter kalter Wassertropfen traf sie mitten auf die Stirn. Grelles Leuchten zuckte über den Himmel, ließ sie zusammenfahren und die Augen zusammenkneifen. Darauf folgte der zweite Donnerschlag, der Trisha so erschreckte, daß sie sich auf die Seite warf. Sie rollte sich instinktiv wie ein Fötus zusammen und stieß dabei einen krächzenden Schrei aus. Dann öffnete der Himmel seine Schleusen. Trisha setzte sich auf, griff nach ihrer heruntergefallenen Baseballmütze und setzte sie wieder auf, ohne sich über ihr Tun im klaren zu sein, und japste nach Luft wie jemand, der mit voller Wucht in einen kalten See geworfen worden ist (und so fühlte es sich auch an). Sie rappelte sich auf. Als sie so dastand, der Regen von ihrer Nasenspitze tropfte und ihr Haar strähnig an ihren Wangen kleben ließ, sah sie auf dem Talboden unter sich eine hohe, halb abgestorbene Fichte plötzlich in Flammen aufgehen und in zwei brennenden Teilen umstürzen. Im nächsten Augenblick wurde die Regenwand so dicht, daß das Tal nur noch schemenhaft, wie von grauer Gaze eingehüllt zu sehen war. Sie wich zurück und suchte wieder den Schutz des Waldes.
    Dort kniete sie sich hin, öffnete ihren Rucksack und holte ihren blauen Poncho heraus. Sie streifte ihn über (lieber spät als nie, hätte ihr Vater gesagt) und setzte sich auf einen umgestürzten Baum. Sie fühlte sich noch immer benommen, ihre Lider waren dick geschwollen und juckten erbärmlich. Die Bäume in ihrer Umgebung konnten den Regen nur teilweise abhalten; der Wolkenbruch war zu heftig. Trisha schlug die Kapuze ihres Ponchos hoch und hörte zu, wie die Tropfen darauf trommelten - wie Regen auf ein Autodach. Sie sah die allgegenwärtige Insektenwolke vor ihren Augen tanzen und wedelte sie kraftlos fort. Nichts kann sie vertreiben, und sie sind immer hungrig, sie haben Blut aus meinen Lidern gesaugt, als ich ohnmächtig gewesen bin, und sie werden mich aussaugen, wenn ich tot bin, dachte sie und begann wieder zu weinen. Diesmal leise und mutlos. Während sie so weinte, wedelte sie weiter die Insekten weg und zuckte bei jedem krachenden Donnerschlag zusammen.
    Ohne Uhr und ohne Sonne gab es keine Zeit mehr. Trisha wußte nur, daß sie dort saß: eine kleine Gestalt in einem blauen Poncho, die

Weitere Kostenlose Bücher