Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Mädchen.

Das Mädchen.

Titel: Das Mädchen. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
Vom Netzwerk:
sie das, ohne es wahrzunehmen. Ich muß Ruhe bewahren, dachte sie, als ihre Füße das anfängliche Joggingtempo überschritten. Gerade vorhin bin ich noch im Van gewesen, dachte sie, als ihr Rennen sich in einen Spurt verwandelte. Ich weiß nicht, warum wir ausbaden müssen, was ihr beiden falsch gemacht habt, dachte sie, während sie - mit knapper Not - einem hervorstehenden Ast auswich, der auf eines ihrer Augen zu zielen schien. Statt dessen schrammte er über ihre linke Gesichtshälfte und hinterließ eine dünne Blutspur auf ihrer linken Wange.
    Die Brise, die sie beim Laufen im Gesicht spürte, während sie mit einem prasselnden Geräusch, das aus weiter Ferne zu kommen schien, durch ein Dickicht brach (ohne die Dornen wahrzunehmen, die sich in ihrer Jeans festhakten und flache Kratzer in ihre Arme rissen), war kühl und seltsam erregend. Sie spurtete einen Hang hinauf, rannte jetzt mit voller Geschwindigkeit, so daß ihre Mütze verrutschte und ihr Haar hinter ihr herwehte - das Gummiband, das ihren Pferdeschwanz zusammengehalten hatte, hatte sie längst verloren -, sprang über kleine Bäume, die irgendein lange zurückliegender Sturm gefällt hatte, erreichte den Hügelgrat ... und sah plötzlich vor ihr ausgebreitet ein langgestrecktes blaugraues Tal liegen, auf dessen gegenüberliegender Seite, viele Meilen von ihr entfernt, steile Granitwände aufragten. Und direkt vor ihr war nichts als ein grauer Schimmer aus Frühsommerluft, durch die sie, sich wieder und wieder überschlagend und nach ihrer Mutter schreiend, in den Tod stürzen würde. Ihr Verstand setzte wieder aus, war durch jenes weißglühende Röhren blanken Entsetzens gelähmt, aber ihr Körper erkannte, daß ein rechtzeitiges Anhalten vor dem Sturz über den Rand des Abgrunds unmöglich war. Sie konnte nur hoffen, daß ihr eine Richtungsänderung gelingen würde, bevor es zu spät war. Trisha schlug einen Haken nach links, bei dem sie mit dem rechten Fuß kurz ins Leere trat. Sie konnte hören, wie die von diesem Fuß losgetretenen Kiesel in einem kleinen Strom über die Wand aus Urgestein hinunterprasselten.
    Trisha hetzte das schmale Band entlang, auf dem der mit Nadeln bedeckte Waldboden in den kahlen Fels überging, der den oberen Rand der Steilwand markierte. Sie rannte weiter, während ihr auf eine wirre und verstörende Weise bewußt war, was ihr beinahe zugestoßen wäre, und sie erinnerte sich außerdem vage an einen Science-fiction- Film, in dem der Held einen rasenden Dinosaurier zu einer Steilwand gelockt hatte, über die das heranschnaubende Ungeheuer in den Tod gestürzt war. Vor ihr war eine Esche so umgeknickt, daß die letzten fünf bis sechs Meter ihres Wipfels wie ein Schiffsbug über den Abgrund hinausragten. Trisha griff mit beiden Händen nach ihr und umarmte sie, drückte ihre zerkratzte, blutige Wange an den glatten Stamm, während jeder Atemzug mit jammerndem Stöhnen in sie hineinpfiff und mit angstvollem Schluchzen wieder ausgestoßen wurde. So blieb sie lange stehen: am ganzen Leib zitternd und den Baum umarmend. Schließlich öffnete sie ihre Augen. Ihr Kopf war nach rechts gedreht, und sie blickte in die Tiefe, bevor sie sich abwenden konnte.
    An dieser Stelle fiel die Steilwand nur etwa fünfzehn Meter tief ab und ging dann in einen eiszeitlichen Schotterkegel über, aus dem kleine Klumpen hellgrüner Büsche sprossen. Dort lag auch «in wild aufgetürmter Haufen verfaulender Bäume und Äste - abgestorbenes Holz, das irgendein lange zurückliegender Sturm über die Felskante geblasen hatte. Vor Trishas innerem Auge entstand ein Bild, das in seiner grellen Klarheit entsetzlich war. Sie sah sich kreischend und im Fallen mit den Armen wedelnd auf diesen wirren Haufen aus Mikadostäbchen stürzen; sie sah, wie ein abgestorbener Ast ihren Unterkiefer durchbohrte, zwischen ihren Zähnen nach oben stieß, ihre Zunge einem roten Merkzettel gleich an ihren Gaumen heftete und zuletzt wie ein Speer in ihr Gehirn drang und sie tötete.
    »Nein!« schrie sie, von diesem Phantasiebild angewidert und zugleich entsetzt über seine Plausibilität. Sie atmete tief durch.
    »Mir fehlt nichts«, sagte sie leise und schnell. Die Kratzer von Dornenranken an ihren Armen und in ihrem Nacken pochten und brannten von ihrem Schweiß - diese kleinen Verletzungen nahm sie erst jetzt wahr. »Ich bin okay. Mir fehlt nichts. Yeah, Baby.« Sie ließ die Esche los, schwankte im Stehen und umklammerte sie erneut, als sie wieder von Panik erfaßt

Weitere Kostenlose Bücher