Das Maedchengrab
Ferne erging. Mit klaren und immer herzlichen Worten schrieb er von den Menschen und den Gebäuden, von seiner Arbeit im Hafen und den Freunden, die er dort gewonnen hatte.
»Wann wird er denn wiederkommen?«, fragte Fine. »Ich würde ihn zu gern persönlich treffen, dann könnte er mir von Amerika erzählen.«
Marjann schossen Tränen in die Augen. »Er wird heimkehren, das hat er mir fest versprochen. Und er wird Geld mitbringen, um mich zu ernähren, wenn meine Knochen nicht mehr können. Aber vorher will er viel arbeiten, denn neben der Rente für mich muss er ja auch das Geld für die Überfahrt verdienen. Da kann es noch lange dauern, bis er kommt.«
Fine strich mit ihrer weichen Kinderhand tröstend über die aufgerauten Hände der alten Frau. Dann schlossen sich die beiden zum ersten Mal fest in die Arme, so wie Großmutter und Enkelin es tun.
So fand Fine ein neues Heim bei der Schwarzen Marjann. Die Leute im Dorf sahen, wie gut sie trotz des schmalen Kostgelds für das Kind sorgte. Dennoch stand sie weiterhin im Ruf, eine Eigenbrötlerin zu sein. Wie bei solchen Frauen üblich, so meinte man, hatte die Schwarze Marjann allerlei Besonderheiten.
In anderen Familien bereitete man junge Mädchen darauf vor, mit einem tüchtigen Ehemann einen eigenen Hausstand zu gründen. Doch wenn Marjann und Fine sich hierüber austauschten, folgte die alte Frau nicht dem Ratschlag üblicher Mütter und Großmütter.
Oft sagte sie: »Häng dich an nichts, Kind. An keinen Menschen, an keine Sache, dann kannst du fliegen.«
Einmal fragte Fine nach: »Aber Tante, Ihr habt doch auch geheiratet. Und Ihr ward glücklich mit Eurem Bert bis zu dieser schlimmen Sache. Warum ratet Ihr mir dann, mich nicht an einen Menschen zu hängen?«
Marjann sah das Kind bedeutungsschwer an und seufzte. »Sicher sollst du dich an einen Mann binden, wenn ihr beide euch nur recht tief liebt. Doch denke immer daran, wie flüchtig das Glück ist und wie rasch der Tod kommen kann. Darum halte in deinem Herzen einen Platz für dich selbst frei. Damit du aus deiner eigenen Kraft schöpfen kannst und gewappnet bis, wenn das Schicksal es schlecht mit dir meint.«
Fine schloss diese Worte in ihre Seele ein, und je älter sie wurde, umso besser verstand sie, was Marjann ihr damit sagen wollte.
In Fines neuem Zuhause verging die Zeit. Das Bett aus ihrem Elternhaus stand jetzt in der winzigen Schlafkammer neben Marjanns Bett, denn für mehr als eine Kammer bot das Haus nicht genügend Platz. Es fand sich auch keine Gute Stube. Außer der Küche und dem Schlafraum gab es noch den Dachboden und – als Besonderheit für ein solch kleines Haus – einen Keller. Immerhin spendeten nicht nur die Kochstelle, sondern zusätzlich ein Kachelofen ausreichend Wärme. Im Sommer sammelte Marjann große Mengen von Reisig und Kienholz, um Herd und Ofen während der kalten Monate emsig zu befeuern.
Aufmerksam sorgte sie für ihren Zögling, obwohl das Kostgeld von der Gemeinde gerade dazu reichte, Schulhefte und Kinderschuhe zu kaufen. Doch Marjann besaß allerlei Geschick. Sie fand noch Hemden von Hannes, die änderte sie um zu Mädchenblusen. Aus ihren eigenen abgelegten Kleidern schnitt sie die noch gut erhaltenen Stoffteile heraus und nähte daraus Röcke für Fine.
Zu essen gab es ohnehin genug: Im Garten, der das Haus umgab, zog Marjann Obst, Gemüse und Kräuter, die sie teils auf dem Dachboden trocknete, teils mit Zucker oder Essig in Gläser einkochte. Sieben Hühner und eine Ziege lieferten Eier und Milch. Auch hing in der Küche unter der Decke stets eine Seite Speck. Marjann erhielt sie als Lohn, wenn sie beim Schlachten in der Nachbarschaft half.
Auch Fine übte sich in mancher Fertigkeit. Schon bei ihrer Mutter hatte sie einiges gelernt über das Haltbarmachen und Zubereiten von Lebensmitteln, konnte häkeln, stricken und stopfen. Marjann unterstützte sie dabei, ihre Kenntnisse zu verfeinern. Im Gegenzug half Fine nachmittags der alten Frau bei deren Tätigkeit als Tagelöhnerin.
So fand Fine in Marjann eine Vertraute. Basti, der einige Häuser weiter beim Ravenzacher wohnte, gewöhnte sich ebenfalls an das neue Zuhause. Dabei fühlte er sich zwar nicht rundherum glücklich, aber doch zufrieden. Die Geschwister teilten tagsüber viel Zeit miteinander. Deswegen fiel es ihnen nicht schwer, die Nächte unter getrennten Dächern zu verbringen.
Die Entdeckung
Es folgten vier Winter und vier Sommer. Fine wuchs heran. Als sie ihr zwölftes Lebensjahr
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