Das Maedchengrab
dich wachen und eine Hand dir helfen, so wie dir jetzt der Schlaf die Schwere vom Herzen nimmt.«
Am nächsten Tag feierte man Allerseelen. Noch vor der Dämmerung weckte Marjann das Mädchen und wies es an, sich anzukleiden und mit auf den Friedhof zu gehen.
Fine hatte den Kummer des Vortages schon hinter sich gelassen, so erquickend war ihr Schlaf gewesen. »Warum denn so früh, Tante?«
»Ich leide es nicht, heute vielen Leuten zu begegnen«, erwiderte Marjann. »Ich will im Geiste bei den Menschen weilen, die ich noch immer liebe und die von mir gegangen sind. Dabei brauche ich keine große Gesellschaft.«
»Ist gut, Tante«, sagte Fine, obwohl sie nicht recht begreifen konnte, was Marjann da sagte. Doch sie fügte sich, zog ihr Sonntagskleid an und ließ sich das dunkelblonde Haar zu einem kräftigen Zopf flechten. Dabei fragte sie: »Letzte Nacht war doch die Seelennacht, nicht wahr, Tante? Die Nacht zwischen Allerheiligen und Allerseelen.«
»Aha!«, Marjann horchte auf. »Ich ahne schon, worauf du hinaus willst, Kind: Du möchtest wissen, ob ich daran glaube, dass in dieser Nacht die Seelen der Verstorbenen zurückkehren. Und ob ich im Haus geblieben bin, weil draußen die bösen Seelen mir etwas antun könnten. Und ob ich die ganze Nacht das Herdfeuer habe brennen lassen, damit die guten Seelen sich hier aufwärmen konnten.«
»Ja«, sagte Fine eingeschüchtert. Denn genau das hatte sie tatsächlich fragen wollen. Und nun wunderte sie sich, dass die alte Frau das so gut hatten wissen können.
Marjann nahm Fines Anliegen tatsächlich ernst. »Es ist wohl so, Kind. Viele Leute glauben an das nächtliche Treiben der Seelen.«
Fine musste daran denken, dass die Schwarze Marjann tags zuvor so seltsame Worte gesprochen hatte, die sich wie Zaubersprüche anhörten. Darum fragte sie jetzt schüchtern: »Und du, Tante? Glaubst du auch daran, dass die Seelen in dieser Nacht herumgeistern?«
Statt zu antworten, gab Marjann eine Frage zurück: »Wie haben es denn deine Eltern gehalten, Fine? Haben die an den Spuk der Seelen geglaubt?«
»Bestimmt nicht«, erwiderte Fine voller Inbrunst. »Unsere Mutter hat immer gesagt, das sei alles Aberglaube, darauf sollte ich nicht hören. Denn eigentlich sei es so: Die Seelen warten auf den jüngsten Tag, dann erstehen sie auf. Und vorher ruhen sie einfach, aber sie geistern nicht.«
»Richtig«, Marjann lächelte. »Genau das denke ich auch. Die Seelen der Toten sind bei Gott. Dort bleiben sie und haben es gut. Sie kehren nicht zurück, um sich auf der Erde herumzutreiben und die Lebenden zu erschrecken. Das ist schlimmer Aberglaube. Und genau darum habe ich das Herdfeuer letzte Nacht gelöscht so wie immer. Ich bin auch ohne Angst noch einmal hinausgegangen, um nach den Hühnern zu sehen.«
Marjanns Antwort stimmte Fine froh. Die alte Frau dachte in Glaubensdingen so, wie Mutter und Vater es auch getan hatten. Erleichtert wechselte Fine das Thema und griff ein Stichwort auf, das Marjann ihr gerade gegeben hatte: »Nach den Hühnern habt Ihr heute Nacht gesehen, Tante? Was war denn mit denen?«
»Sie waren unruhig. Und ich wollte sicher sein, dass sich da kein Fuchs vom Wald her eingeschlichen hatte.«
»Gab es denn einen Fuchs?«
»Nein, Kind. Und auch keine böse Seele, die mir begegnet wäre.«
Wegen des festlichen Tages schloss Marjann den Zopf mit einer schwarzen Samtschleife ab. Aufmunternd griff sie die Arme des Kindes. »Nun lass uns gehen.«
Sie banden sich wollene Tücher um die Schultern und traten an einen kleinen Tisch. Dort hatte Marjann ein Tablett mit sechs Windlichtern und vier kleinen Sträußen bereitgestellt. Wie die Kreuze, die Fine und Basti am Vortag auf das Grab der Eltern gelegt hatten, bestanden auch die vier Sträuße aus gestielten Vogelbeeren. Für die Lichter hatte Marjann helles Bienenwachs in Gläser gegossen und mit einem baumwollenen Docht versehen.
Marjann entflammte einen Kienspan am Herdfeuer und wollte schon die Kerzen anzünden, da fragte Fine: »Bitte, Tante, darf ich das tun?«
»Ja sicher.« Marjann gab ihr den brennenden Span in die Hand.
Kerze um Kerze brachte Fine zum Brennen. Ein Leuchten lag aber auch in den Gesichtern der beiden, als sie nach draußen traten.
Der frühe Morgen war dabei, trübe Sonnenstrahlen über das Dorf zu breiten. Das Tal stand seit einigen Tagen unter einer milden Witterung, wie sie Anfang November selten vorkam. Auf dem Weg begegnete ihnen niemand, und sie schwiegen. Wie nun Fine auf die
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