Das Maedchengrab
sich berichten, wessen Angehörige hier begraben lagen und welche Geschichten es zu den verstorbenen Dorfbewohnern gab. Basti und Fine zeigten ihren Mitschülern die Gräber von den Eltern und von Marjanns drei kleinen Töchtern. Dabei erzählte Fine über die Lungen-Krankheiten namens Stickfluss und Tuberkulose, die alle fünf Menschen dahingerafft hatten.
Nach einem Gebet ging die Klasse weiter zu den Gräbern auf der anderen Seite der Kirche. Basti trug an diesem Tag eine brauen Kappe. Weil es für die Jahreszeit recht warm war, hatte er sie nur locker auf den Kopf gesetzt und nicht über die Ohren gezogen. Gerade stand die Schulklasse vor einer aufwändig gestalteten Grabstätte, sie gehörte der Familie des Oberlandbauern. Ein Wind zog auf, und eine plötzliche Böe riss Basti die Kopfbedeckung weg. Die Kinder machten sich einen Spaß daraus, der Kappe nachzulaufen, die nun zwischen gefallenen Blättern über den Boden trudelte. Jeder versuchte, sie zu ergreifen, doch der Wind war schneller. Mit einem Stoß auf den anderen trieb er die Kappe mal hierher, mal dorthin, und jagte die johlende Kinderschar quer über den Kirchhof. Erst an der Mauer, ganz am Rande der Gräberreihen blieb die Kappe zwischen reichlich Laub liegen. Basti bückte sich und hob sie auf. Während er seinen Rücken wieder nach oben streckte, fiel sein Blick auf den Gedenkstein dicht neben einer alten Eiche.
»
Elisabeth Breidbach
«, las er halblaut, und gleich darauf entfuhr es ihm: »Den Namen habe ich ja noch nie gehört.«
Neugierig traten nun auch die übrigen Kinder an das Grab und betrachteten die Inschrift.
Flugs errechnete Basti, dass Elisabeth vor acht Jahren verstorben und nur fünfzehn Lenze alt geworden war. Ein erstauntes Raunen ging durch die Kinderschar. Alle wunderten sich, weil offenbar niemand dieses Mädchen gekannt hatte. Nicht einmal die Ältesten unter ihnen konnten sich an diese Elisabeth erinnern.
»Breidbach!«, rief Fine schließlich. »So heißt doch der Köhlmattes: Unser Köhler Matthias Breidbach.«
»Könnte sie vielleicht eine Tochter von ihm sein?«, fragte Herr Schneider. Ihn mutete die Begebenheit seltsam an, und er wollte sie rasch klären.
Die Kinder überlegten.
»Dem Alter nach könnte das wohl hinkommen«, meinte schließlich Bärbel, die eine gute Freundin von Fine war. »Aber soweit ich weiß, haben der Köhlmattes und die Köhlgretel nur zwei Söhne. Die arbeiten in Westfalen und haben auch mit Kohle zu tun. Aber nicht mit Holzkohle wie ihre Eltern, sondern mit Steinkohle. Die holen sie da aus einem tiefen Schacht. Von einer Tochter in dieser Familie habe ich nie gehört.«
Auch die anderen Kinder zeigten ratlose Gesichter. Zwar lag das Grab dicht an der Mauer unter der Eiche und von daher nicht im direkten Blickfeld der meisten Friedhofsbesucher. Doch der Grabstein kündete in aller Offenheit vom Tod der jungen Frau.
Dem Lehrer Schneider kam es eigenartig vor, dass keines der Kinder dieses Grab kannte. Als er ihre erstaunten Blicke auf den Gedenkstein bemerkte, überkam ihn ein Unbehagen. Ihm war, als habe die verwehte Mütze dem Kirchhof ohne jede Absicht ein Geheimnis entlockt. Und auch die Kinder schienen durch die Entdeckung des Grabes unangenehm berührt.
»Wir müssen bald zurück zur Schule«, wies Herr Schneider die Klasse an. »Aber vorher wollen wir noch ins Gotteshaus gehen.« Er führte sie in die vordersten Kirchenbänke und sprach ein kurzes Gebet.
Dann ließ er die Kinder in Zweierreihe Aufstellung nehmen und mahnte, sich auf dem Weg zum Schulgebäude ruhig zu verhalten. Keines des Kinder verlor ein Wort über die unbekannte Elisabeth Breidbach.
So soll es sein, dachte der Lehrer Schneider zufrieden und hoffte, die Kinder würden das Grab des jungen Mädchens bald vergessen und ihre Eltern nicht darauf ansprechen. Denn wenn es wirklich so war, dass über Elisabeths Tod im Dorf einvernehmlich geschwiegen wurde, so wollte er als junger Lehrer nicht daran rühren.
Zurück in der Schule gab er den Kindern zu rechnen. Den Jüngeren stellte er Aufgaben aus dem Einmaleins, die Älteren ließ er komplizierte Zahlenbrüche aus dem Übungsbuch lösen.
Doch so sehr Herr Schneider sich auch mühte, alles wieder in die üblichen Bahnen zu lenken – es gelang ihm nicht ganz. Denn Fine, die sonst eine gute Schülerin war, verrechnete sich zweimal und schaute mit so abwesendem Blick in der Luft umher, dass er sie mehrfach ermahnen musste. Er gab ihr eine besonders schwierige Aufgabe.
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