Das Magdalena-Evangelium: Roman
wurde«, erklärte sie Sinclair.
Maureens Forschungen hatten ergeben, dass die vernichtende Anschuldigung des Ehebruchs von Lucrezias erstem Ehemann aufgebracht worden war, einem gewalttätigen Rüpel, der nach der Auflösung ihrer Ehe ruiniert war. Er hatte das Gerücht in die Welt gesetzt, Lucrezia fordere die Scheidung, weil sie sexuelle Beziehungen zu ihrem Vater und zu ihrem Bruder unterhielt. Diese infame Lüge überdauerte die Jahrhunderte, weil sie von den Neidern der erfolgreichen Borgias eifrig kolportiert wurde.
»Auch sie gehören zur Blutlinie, wissen Sie.«
»Die Borgias?« Maureen konnte es kaum glauben. »Wie das?«
»Durch die Sarah-Tamar-Linie. Die Vorfahren der Borgias waren Katharer, die nach Spanien flüchteten. Sie suchten Schutz im Kloster Montserrat und wurden im Königreich Aragon aufgenommen; dort nahmen sie den Namen Borja an und richteten ihre Augen auf Italien. Dieses Ziel wählten sie allerdings nicht zufällig, wie auch ihr legendärer Ehrgeiz belegt. Rodrigo Borgiahatte den Papstthron im Auge; er wollte Rom seinen rechtmäßigen Herrschern zurückgeben.«
Maureen schüttelte verwundert den Kopf, während Sinclair fortfuhr.
»Die Einsetzung seiner Tochter auf den Heiligen Stuhl war bezeichnend für seine Katharer-Abstammung. Selbstverständlich waren die Frauen in der Lehre des Rechten Weges als geistige Führer gleichberechtigt. Rodrigo schuf Tatsachen, deren letzte Konsequenz jedoch der Rufmord an seiner Tochter war. Leider erinnert sich die Geschichte nur noch an die Intrigen und Bosheiten der Borgias.«
Dem konnte Maureen nur zustimmen. »Manche Schreiber sind sogar so weit gegangen, sie die erste Familie des organisierten Verbrechens zu nennen. Es ist so schrecklich unfair.«
»Und überdies absolut unzutreffend.«
»Dieses Wissen um die Blutlinie …« Maureen war immer noch damit beschäftigt, alles zu verarbeiten. »Es fügt der Geschichte wahrhaftig eine neue Dimension hinzu.«
»Sehen Sie ein zweites Buch vor sich, meine Liebe?«, scherzte Sinclair.
»Ich sehe ungefähr zwei Jahrzehnte Recherche auf mich zukommen, mindestens. Es ist ungeheuer faszinierend. Ich kann kaum erwarten, wohin es mich noch führen wird.«
»Ja, aber zunächst ist es an der Zeit, dass Sie ein Kapitel Ihres eigenen Lebens betrachten.«
Maureen wurde ganz starr. Sie hatte darum gebeten, darauf bestanden. Dies war der Grund, warum sie nach Frankreich gekommen war. Doch jetzt war sie nicht sicher, ob sie es erfahren wollte.
»Ist alles in Ordnung mit Ihnen?« Sinclair klang ehrlich besorgt.
Maureen schüttelte den Kopf. »Es ist nichts. Nur, jetzt, wo ich hier bin … da bin ich nervös, das ist alles.«
Sinclair wies auf einen Stuhl, und Maureen ließ sich dankbarnieder. Dann schloss er einen in die Wand eingelassenen Aktenschrank auf und zog einen Ordner heraus. »Ich habe diesen Brief vor Jahren im Archiv meines Großvaters gefunden. Als ich von Ihrem Buch erfuhr und das Foto mit dem Ring sah, gingen in meinem Kopf die Alarmglocken los. Ich wusste zwar von Nachkommen der Paschals in Frankreich, aber ich erinnerte mich auch, dass es einmal einen Amerikaner dieses Namens gegeben hatte, der aus irgendeinem Grunde wichtig war. Warum, fiel mir wieder ein, als ich diesen Brief fand.«
Er legte den Ordner behutsam vor ihr hin und schlug ihn auf. Maureen sah vergilbtes Papier und verblasste Tinte. »Soll ich Sie vielleicht lieber allein lassen?«
Maureen schaute zu ihm auf. In seiner Miene las sie Verständnis und Trost. »Nein. Bleiben Sie bitte bei mir.«
Sinclair nickte, tätschelte ihre Hand und nahm ihr gegenüber Platz. Maureen begann zu lesen.
»Lieber Monsieur Gelis« , lauteten die ersten Worte.
»Gelis?«, fragte Maureen. »Ich dachte, der Brief wäre an Ihren Großvater gerichtet.«
Sinclair schüttelte den Kopf. »Er befand sich zwar unter den Papieren meines Großvaters, war aber an einen Einheimischen aus einer alten Katharer-Familie namens Gelis gerichtet.«
Maureen vermeinte, den Namen schon einmal gehört zu haben, dachte aber nicht weiter darüber nach. Sie war zu begierig, den Inhalt des Briefes zu erfahren.
Lieber Monsieur Gelis,
bitte vergeben Sie mir, aber ich habe sonst niemand, an den ich mich wenden kann. Ich habe gehört, dass Sie große Erfahrung in geistigen Dingen haben. Dass Sie ein wahrer Christ sind. Ich hoffe, dies ist so. Seit vielen Monaten quälen mich Albträume und Visionen von unserem Herrn am Kreuz. Ich bin von ihm heimgesucht worden, und er
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