Das Magdalena-Evangelium: Roman
hat mir seinen Schmerz gegeben.
Aber ich schreibe nicht um meinetwillen. Ich schreibe wegen meiner kleinen Tochter, meiner Maureen. Sie schreit in der Nacht, und sie erzählt mir von denselben Albträumen. Sie ist noch ein kleines Kind. Wieso geschieht ihr so etwas? Wie kann ich es aufhalten, bevor sie den Schmerz erleidet, den ich spüre?
Ich kann es nicht ertragen, mein Kind so leiden zu sehen. Ihre Mutter gibt mir die Schuld; sie droht, mir das Kind wegzunehmen. Bitte helfen Sie mir. Bitte sagen Sie mir, was ich tun soll, um mein kleines Mädchen zu retten.
Ich danke Ihnen von Herzen,
Ihr Edouard Paschal
Maureen war blind vor Tränen, als sie den Brief hinlegte. Dann brach sie in Schluchzen aus.
Sinclair bot Maureen an, bei ihr zu bleiben, aber sie war zu tief erschüttert von dem Brief und musste allein sein. Sie erwog kurz, Peter zu wecken, entschied sich dann aber dagegen. Sie musste erst selbst darüber nachdenken. Seit ihm kürzlich herausgerutscht war, er habe ihrer Mutter versprochen, ihr werde nicht das Gleiche passieren wie ihrem Vater, war Maureen misstrauisch geworden, und ihr war unbehaglich zumute. Peter war stets ihre Zuflucht gewesen; sie vertraute ihm blind und wusste, dass er nie etwas tun würde, das ihre Sicherheit gefährdete. Aber was war, wenn Peters Handlungen auf Fehlinformationen beruhten? Seine Kenntnis von ihrer Kindheit, über die er nichts Genaues sagen wollte, stammte einzig und allein von Maureens Mutter.
Ihre Mutter. Maureen setzte sich auf das breite Bett und ließ sich ein Stück in die bestickten Kissen zurücksinken. Bernadette Healy war eine harte, unerbittliche Frau gewesen; zumindestlebte sie so in Maureens Erinnerung. Der einzige Beweis, dass sie früher einmal vielleicht glücklich gewesen war, existierte in Form von Fotografien: Maureen besaß ein paar Schnappschüsse aus Louisiana, auf denen Bernadette ihre kleine Tochter auf dem Arm hielt. Hier strahlte sie in die Kamera, jeder Zoll eine stolze junge Mutter.
Maureen hatte sich unzählige Male gefragt, was Bernadette so verändert hatte, welche Umstände aus der jungen, hoffnungsfrohen Mutter der Fotos solch eine kalte, strenge Zuchtmeisterin gemacht hatten. Nach der Rückkehr nach Irland war Maureen hauptsächlich von Onkel und Tante – Peters Eltern – aufgezogen worden. Bernadette hatte Maureen in der Sicherheit und Zurückgezogenheit des abgelegenen Bauerndorfes im irischen Westen untergebracht, während sie selbst wieder als Krankenschwester in Galway arbeitete.
Maureen sah die Mutter nur, wenn Bernadette einen ihrer Pflichtbesuche auf dem Hof machte. Diese Besuche waren von Mal zu Mal belastender, da ihr die Mutter immer fremder wurde. Für Maureen waren Peters Eltern ihre Familie, und sie fühlte sich in der Wärme des großen, ausgelassenen Clans geborgen. Auntie Ailish, Peters Mutter, hatte die Stelle ihrer Mutter eingenommen. Maureens Warmherzigkeit und Humor entstammten dem Einfluss von Peters Familie; ihre Tendenz zu Zurückhaltung, Ordnung und Vorsicht hingegen kam von ihrer Mutter.
Zuweilen, üblicherweise nach einem von Bernadettes katastrophalen Besuchen, nahm Ailish ihre Nichte beiseite.
»Du darfst deine Mutter nicht zu hart richten«, sagte sie in ihrer geduldigen Art. »Bernadette liebt dich. Vielleicht zu sehr, und das ist ihr Verhängnis. Aber sie hat ein schweres Leben hinter sich, und das hat sie verändert. Wenn du älter bist, wirst du es verstehen.«
Zeit und Schicksal jedoch hatten jede Chance auf späteres Verständnis zunichte gemacht. Als Maureen ein Teenager war, bekam Bernadette eine Lymphknotenerkrankung und starb.Peter wurde an ihr Sterbebett gerufen und gab ihr die letzte Ölung. Auch nahm er ihr die Beichte ab und trug seitdem die Last ihrer schockierenden Enthüllungen auf seinen Schultern. Aber davon wollte er Maureen nichts sagen und berief sich stets auf das Beichtgeheimnis.
Und nun war ein neues Teil zu dem Puzzle hinzugekommen. Maureen musste versuchen, die Bedeutung des väterlichen Briefes zu verstehen, einen Einblick in das komplizierte Vermächtnis gewinnen, das er ihr vielleicht hinterlassen hatte. Doch sie würde erst einmal darüber schlafen und morgen mit Peter darüber reden, wenn sie wieder einen klaren Kopf hatte.
Carcassonne
25. Juni 2005
Derek Wainwright hatte einen tiefen Schlaf. Der Cocktail von Medikamenten und Rotwein hatte sich mit Erschöpfung und Stress gemischt, um einen Zustand der Betäubung hervorzurufen, der an
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