Das Magdalena-Evangelium: Roman
keine Antwort auf ihre Frage bekommen. Sinclair verabreichte ihr wieder einen Löffel Eissplitter, und sie versuchte es noch einmal.
»Die … Truhe?«
Zum ersten Mal seit Tagen lächelte Sinclair. »Die ist in Sicherheit. Sie wurde mit Ihnen hergebracht und ist nun in meinem Arbeitszimmer eingeschlossen.«
»Was …?«
»Was darinnen ist? Das wissen wir noch nicht. Wir werden Sie nur in Ihrem Beisein öffnen, meine Liebe. Alles andere wäre ein Fehler. Ro…«, er stoppte sich selbst. »Eigentlich sogar Blasphemie. Die Truhe wurde Ihnen gegeben, und Sie müssen dabei sein, wenn ihr Inhalt ans Tageslicht kommt.«
Erleichtert schloss Maureen die Augen. Sie überließ sich erneut dem warmen Schlaf der Beruhigungsmittel, im sicheren Wissen, dass sie nicht versagt hatte.
Als Maureen das zweite Mal erwachte, saß Tammy in einem der roten Ledersessel neben ihrem Bett.
»Guten Morgen, meine Schöne«, grüßte sie und legte das Buch beiseite, in dem sie gelesen hatte. »Schwester Tammy, zu Diensten, was darf ich Ihnen bringen? Margarita? Pina Colada?«
Maureen wollte lächeln, aber sie konnte nicht.
»Wären Sie auch mit ein paar Eissplittern zufrieden? Ah ja, sehe ich da den gereckten Daumen, das internationale Zeichen der Zustimmung? Kommt sofort.«
Tammy nahm die Kristallschale und rückte dicht ans Bett, fütterte die Freundin mit Eissplittern. »Und – sind sie gut? Hab sie heute Morgen frisch gemacht.«
Dieses Mal schaffte Maureen die Andeutung eines Lächelns. Es tat aber immer noch weh. Nach ein paar Löffeln hatte sie das Gefühl, sie könne jetzt reden. Und gleichzeitig denken. Ihr Kopf schmerzte noch, fühlte sich aber nicht mehr so benommen an, und die Erinnerung kehrte allmählich zurück.
»Was ist mit mir passiert?«
Tammy wurde schlagartig ernst. Sie setzte sich neben die Freundin. »Wir hoffen, dass du uns die erste Hälfte erzählen kannst. Dann klären wir dich über die zweite auf. Jetzt natürlich noch nicht, erst wenn du wieder sprechen kannst. Aber die Polizei …«
»Polizei?«, krächzte Maureen.
»Schhh, nicht aufregen. Hätte ich nicht sagen sollen. Es ist alles in Ordnung. Mehr brauchst du nicht zu wissen.«
»Nein, ist es nicht.« Maureen spürte, dass ihre Stimme ebenso wie ihre Kraft zurückkehrte. »Ich muss wissen, was passiert ist.«
»Okay.« Tammy nickte. »Dann hole ich jetzt die Jungs.«
Nacheinander traten die vier in Maureens Zimmer – zuerst Sinclair, dann Peter, Roland und Tammy. Sinclair kam zu ihrem Bett und setzte sich auf den Stuhl, der danebenstand.
»Maureen, ich kann gar nicht sagen, wie leid es mir tut. Ich habe Sie hergebracht und dieser Gefahr ausgesetzt. Aber ich hätte mir nie träumen lassen, dass Ihnen etwas Derartiges zustößt. Ich war sicher, wir würden Sie auf dem Gelände des Châteaus beschützen können. Wir konnten ja nicht voraussehen, dass Sie allein und mitten in der Nacht auf Entdeckungsreisen gehen würden.«
Auch Tammy kam nun näher heran. »Weißt du noch, was ich dir gesagt habe? Dass es Leute gibt, die dich daran hindern würden, den Schatz zu finden?«
Maureen nickte – gerade deutlich genug, damit die anderen es sahen; vorsichtig genug, damit ihr nicht wieder schwindelig wurde. »Wer sind diese Leute?«, flüsterte sie.
Sinclair übernahm die Erklärung. »Der Orden der Gerechten. Eine Gruppe von Fanatikern, die seit Jahrhunderten in Frankreich ihr Unwesen treibt. Ihre Ziele sind ziemlich kompliziert,also warten wir lieber mit der Erklärung, bis Sie sich wieder völlig erholt haben.«
Maureen setzte zu einer Entgegnung an. Sie wollte endlich Antworten haben. Überraschenderweise war es Peter, der Sinclairs Ansicht unterstützte.
»Er hat recht, Maureen. Du bist immer noch ziemlich angeschlagen, sparen wir uns also die schmutzigen Details, bis es dir wieder besser geht.«
»Sie wurden verfolgt«, setzte Sinclair fort. »Seit Sie nach Frankreich kamen, hat man jede Ihrer Bewegungen beobachtet.«
»Aber wie?«
Mit blassem, erschöpftem Gesicht beugte sich Sinclair vor. Maureen fielen die violetten Schatten unter seinen Augen auf.
»Eben da habe ich versagt, meine Liebe. Ein Spion hat sich bei uns eingeschlichen. Ich hatte keine Ahnung davon, dass einer der Unsrigen ein Maulwurf, ein Verräter war, und das schon seit Jahren.«
Schmerz und Scham über sein Versagen hatten von Berenger Sinclair ihren Tribut gefordert. Aber während er nur elend aussah, wirkte Roland, der hinter ihm stand, als trüge er sich mit
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