Das Magdalena-Evangelium: Roman
aufmerksam und wandte Isas Philosophie auf die gegenwärtige Situation an. »Du willst sagen, dass Pontius Pilatus von Gott an seinen Platz gesetzt worden ist?«
Isa nickte. »Ja. Pilatus, seine gute Ehefrau, ihr Sohn.«
»Und Pilatus’ Entscheidung, ob er uns helfen wird oder nicht … das ist nicht Gottes Bestimmung?«
Nun schüttelte Isa den Kopf. »Gott macht uns keine Vorschriften, Maria. Er leitet uns. Jedem Menschen ist es überlassen, seinen Herrn zu wählen, er hat die Wahl zwischen Gottes Plan und seinen irdischen Wünschen. Du kannst nicht gleichzeitig Gott und den irdischen Bedürfnissen dienen. Das Gottesreich kommt zu denen, die Gott gewählt haben. Ich kann nicht voraussagen, welchen Herrn Pontius Pilatus wählen wird, wenn die Zeit dafür gekommen ist.«
Maria hörte aufmerksam zu. Isas Beispiel von Pontius Pilatus war nicht mehr als eine Bestätigung dessen, was er immer gelehrt hatte, aber sie hatte dies noch nicht auf eine so klare, mächtige Weise gesehen. Von jäher Vorausschau ergriffen, spürte sie das Bedürfnis, die Worte ihres Mannes aufzunehmen, sie genau so im Gedächtnis zu behalten, wie er sie gesprochen hatte. Die Zeit würde kommen, in der sie andere lehren konnte, was Isa sie gelehrt hatte.
»Der Hohepriester und seine Anhänger haben meine Verhaftung beschlossen – wir wissen jetzt, dass es kein Entrinnen gibt«, fuhr Isa fort. »Aber wir werden bitten, dass sie mich Pilatus vorführen, und ihm werde ich meinen Fall darlegen. Dann wird es seinem Glauben und seinem Gewissen obliegen, die Entscheidung zu treffen. Wir müssen darauf vorbereitet sein, wie sieauch ausfallen mag. Und mit unseren Handlungen müssen wir zeigen, welche Wahrheit die unsere ist: Wenn wir das Reich Gottes in uns tragen, kann es uns von niemandem genommen werden – weder von einer irdischen Macht noch durch Zwang, noch durch die Folter. Nicht einmal der Tod kann es uns nehmen.«
Sie redeten bis tief in die Nacht. Isa legte Maria seine Pläne für den nächsten Tag dar. Nur einmal stellte sie die Frage, die sie am meisten bewegte.
»Können wir Jerusalem nicht einfach verlassen – heute Nacht noch? Können wir nicht zurück in die Hügel Galiläas fliehen, bis Hannas und Kaiphas ein anderes Wild zum Hetzen gefunden haben?«
»Du vor allen Menschen solltest es besser wissen, meine Maria«, schalt er sie zärtlich. »Das Volk beobachtet uns. Ich muss ihm ein Beispiel geben.«
Maria nickte zum Zeichen, dass sie einverstanden war. Isa berichtete von seinem Gespräch mit der Hohen Maria. Sie hatten beschlossen, dass ein Auftritt im Tempel von Jerusalem zu riskant wäre, denn falls es zu einem Aufstand kam, würden zu viele Unschuldige verletzt werden. Isas vorrangige Sorge galt dem Schutz seiner Jünger. Die Hohepriester wollten ihn, nicht einen der anderen; das hatten sie von Jairus erfahren. Es gab also keinen Grund, die anderen unnötig in Gefahr zu bringen.
Die treuesten Jünger sollten sich am Nachmittag auf einer Liegenschaft des Josef zum Paschamahl versammeln. Dort wollte Isa jedem Einzelnen von ihnen seine künftige Rolle in der Nazarener-Bewegung anweisen für den Fall, dass er wie Johannes eine längere Kerkerhaft auf sich nehmen oder Schlimmeres erdulden musste. Sie würden die Nacht auf Josefs Grundstück mit Namen Gethsemane verbringen, unter den heiligen Sternen Jerusalems.
Und dort würde Isa sich verhaften lassen.
»Du willst dich dem Beschluss des Tempels unterwerfen?«, fragte Maria entgeistert.
»Nein, nein. Das kann ich nicht tun. Die Menschen würden ihren Glauben an den Rechten Weg verlieren, wenn ich das täte. Aber ich muss dafür sorgen, dass meine Verhaftung fern der Stadt geschieht und dass sie ohne Blutvergießen und Aufruhr vonstattengeht. Ich werde mich von einem der Unseren ›verraten‹ lassen – er wird zu den Hohepriestern gehen und sagen, wo ich mich aufhalte. Die Wachen werden nach Gethsemane kommen, wo es einsam ist und also kein Aufruhr entstehen kann.«
Marias Gedanken rasten. Dies ging alles viel zu schnell. Ein furchtbarer Gedanke kam ihr. »O Isa! Wer? Wer von den Unseren sollte den Mut haben, so etwas zu tun? Du kannst doch nicht glauben, dass Petrus oder Andreas dazu fähig wären? Oder Philippus oder Bartholomäus? Dein Bruder Jakob würde lieber sein eigenes Blut vergießen und Simon das anderer Leute.«
Dann dämmerte ihr die Antwort. Gemeinsam sprachen sie den Namen aus: »Judas.«
Isas Miene war ernst. »Und zu ihm muss ich jetzt gehen, meine
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