Das Magdalena-Evangelium: Roman
aus Jerusalem waren in der Tat alarmierend. Noch mehr Menschen hatten Isa und die Nazarener am Morgen bei ihrem Einzug in die Stadt empfangen, und die römischen Torwachen waren unruhig geworden. Die Nazarener hatten sich vor dem Tempel versammelt, Isa hatte gepredigt und sich abermals Fragen und Herausforderungen gestellt. Wie am Tag zuvor hatten sich Vertreter der Hohepriester und des Tempels unter der Menge befunden. Die Unruhe wuchs, als die gemaßregelten Geldwechsler und Händler vortraten, um gegen die Anwesenheit der Nazarener zu protestieren. Um den Frieden zubewahren und mögliches Blutvergießen zu vermeiden, verabschiedete Isa sich von seinen Zuhörern und verließ mit seinen treuesten Anhängern den Tempelvorplatz.
Am Abend versammelten sie sich in Bethanien. Salomes Beobachtungen, neue Nachrichten von Jairus und die Prophezeiung der Hohen Maria schufen eine Atmosphäre der Bestürzung und Sorge. Allein Isa zeigte sich von der bedrohlicher werdenden Lage unbeeindruckt.
Simon und Judas, die mit den anderen Zeloten beratschlagt hatten, hegten eigene Pläne. »Wir sind viele und können gegen jeden kämpfen, der dir etwas anhaben will«, versicherte Simon. »Morgen wird eine große Menschenmenge am Tempel sein. Wenn du dem Volk sagst, dass das Reich Gottes die Juden von der römischen Besatzung befreit, werden die Menschen dir folgen.«
»Und was soll dabei herauskommen?«, entgegnete Isa ruhig. »Das Ergebnis wäre doch nur, dass das Blut vieler Unschuldiger vergossen wird. Das ist nicht die Lehre des Rechten Weges. Nein, Simon, ich werde keinen Aufstand anzetteln, sodass am Vorabend eines Feiertages das Blut unseres Volkes vergossen wird. Wie soll ich ihnen das Reich Gottes in jedem Mann und in jeder Frau zeigen, wenn ich sie bitte, dafür zu sterben? Ihr missversteht die Bedeutung des Rechten Weges, meine Brüder.«
»Aber ohne dich gibt es keinen Rechten Weg!«, fauchte Petrus. Ihm waren die Anstrengungen der letzten beiden Tage deutlicher anzumerken als allen anderen Jüngern. Er hatte für seinen Glauben an Isa und den Rechten Weg alles geopfert. Ein unglückliches Ende in Erwägung zu ziehen kam für ihn schlicht nicht infrage.
»Du irrst, mein Bruder«, sagte Isa. Kein Vorwurf lag in seiner Stimme, während er sich zu Petrus wandte und fortfuhr. »Petrus, ich habe es dir gesagt, seit wir Kinder waren. Du bist der Fels, auf den ich meine Kirche bauen werde. Dein Erbe wird so lange leben wie meines.«
Petrus indes wirkte nicht beruhigt, die anderen Jünger ebenso wenig. Isa merkte dies und hob seine Hände.
»Meine Brüder und Schwestern, hört mich an. Bedenkt, was ich euch gelehrt habe: Das Königreich Gottes ist in euren Herzen, und kein Unterdrücker kann es euch nehmen, niemals. Wenn ihr diese eine Wahrheit in euren Herzen behaltet, werdet ihr keinen Tag der Furcht oder Schmerzen erfahren.«
Dann streckte er den Jüngern seine Hände entgegen und stimmte das Gebet des Herrn an.
In jener Nacht verließ Isa seine Anhänger, um unter vier Augen mit der Hohen Maria zu sprechen. Als sie sich ausgesprochen hatten, wünschte er seiner Mutter eine gute Nacht und begab sich zu seiner Frau.
»Du musst keine Furcht haben vor dem, was kommen wird, kleine Taube«, sagte er zärtlich.
Maria sah ihn forschend an. Isa verbarg seine Visionen oft vor seinen Anhängern, doch selten vor ihr. Sie war der Mensch, mit dem er fast alles teilte. Doch heute Nacht spürte sie, dass er etwas zurückhielt.
»Was siehst du, Isa?«, fragte sie leise.
»Ich sehe, dass mein Vater im Himmel einen großen Plan ersonnen hat, dem wir folgen müssen.«
»Bis zur Erfüllung der Prophezeiungen?«
»Wenn dies sein Wille ist.«
Maria war einen Moment still. Die Prophezeiungen waren vielfältig und undeutlich, aber einige von ihnen besagten, dass der Messias von seinem eigenen Volk dem Tode überantwortet werde.
»Und was ist mit Pontius Pilatus?«, fragte sie hoffnungsvoll. »Sicherlich bist du zur Heilung seines Kindes bestimmt worden, damit er verstehen sollte, wer und was du bist. Glaubst du nicht, dass dies Teil von Gottes Plan ist?«
»Maria, höre genau zu, was ich dir sagen werde, denn dies ist eine der Grundlagen des Rechten Weges der Nazarener. Gott schafft seinen Plan, und er setzt jeden Mann und jede Frau an ihren vorbestimmten Platz. Aber er zwingt sie nicht zum Handeln. Wie jeder gute Vater führt der Herr seine Kinder, aber er gibt ihnen die Möglichkeit, ihre eigene Wahl zu treffen.«
Maria lauschte
Weitere Kostenlose Bücher