Das Magdalena-Evangelium: Roman
auf die Beine und sprach zu ihm: »Kaiphas hat euch geschickt, und wie gegen einen Räuber oder Mörderseid ihr mit Schwertern und Knüppeln ausgezogen, um mich festzunehmen. Warum jetzt? Tag für Tag war ich bei euch im Tempel, und er hat nicht gewagt, gegen mich vorzugehen oder anzudeuten, dass ich in Gefahr sei. Aber dies ist eure Stunde, jetzt hat die Finsternis die Macht.«
Einer der Soldaten, der die Abzeichen eines Hauptmanns trug, trat vor und fragte in einem unbeholfenen, kehligen Aramäisch: »Bist du Jeschua der Nazarener?«
»Der bin ich«, antwortete er schlicht auf Griechisch.
Mehrere seiner Anhänger überhäuften den Judas mit Anklagen und Fragen. Isa hatte ihm geraten, darauf nicht zu antworten, und Judas gehorchte. Stattdessen küsste er Isa auf die Wange und hoffte, dass manche der Jünger an diesem Zeichen erkennen würden, welche Aufgabe er übernommen hatte.
Der Soldat mit den Rangabzeichen erklärte Isa zum Gefangenen, der unter Anklage stehe, und Isa wurde seinem Schicksal entgegengeführt, das nun in den Händen der Hohepriester lag.
Maria Magdalena und die Hohe Maria hielten Wache in jener Nacht. Sie achteten sorgsam darauf, den vor Zorn kochenden Männern nicht zu nahe zu kommen; auf keinen Fall durften sie verraten, wie viel sie vorher über den Gang der Ereignisse gewusst hatten.
Die Marien wechselten sich ab in Gebet und Trost. Einige Stunden später sahen sie eine leuchtende Fackel über das Tal des Baches Kidron näher kommen. Drei Menschen kamen zu ihrem Lagerplatz, zwei Männer und offensichtlich eine sehr zierliche Frau. Maria sprang auf, als sie die herodianische Prinzessin erkannte. Sie lief auf Salome zu und umarmte die Schwester. Erst dann wurde sie gewahr, dass der Mann mit der Fackel ein römischer Zenturio war, allerdings nicht in Uniform;es war der Mann mit den blauen Augen, dessen Hand Isa geheilt hatte.
»Schwester, wir haben nicht viel Zeit.« Salome keuchte schwer. Offenbar war sie schnell gelaufen. »Ich komme von der Festung Antonia. Claudia Procula lässt dich herzlich grüßen, und ich soll dir ausrichten, wie sehr sie die ungerechte Verhaftung deines Ehemannes bedauert.«
Maria nickte, bedeutete Salome fortzufahren und unterdrückte die wachsende Angst in ihrer Magengrube. Wenn die Frau des römischen Prokurators mitten in der Nacht Boten ausschicken musste, dann bahnte sich Unheil an.
»Isa wird morgen früh an Pilatus ausgeliefert«, fuhr Salome fort. »Pilatus steht unter furchtbarem Druck, die Todesstrafe zu verhängen. O Maria, er will es nicht! Claudia sagt, dass Pilatus nur zu gut weiß, wer seinen Sohn geheilt hat – zumindest versucht er es in seiner römischen Art zu akzeptieren. Aber mein abscheulicher Stiefvater fordert, dass Isa so bald wie möglich getötet wird. Herodes reist am Sabbat nach Rom, und er hat Pilatus befohlen, dieses ›Nazarener-Problem‹ noch vor seiner Abreise zu lösen. Maria, versteh doch, wie ernst es ist! Sie könnten Isa hinrichten. Morgen schon.«
All dies ging zu schnell – viel zu schnell. Keiner von ihnen hatte so etwas erwartet; sie hatten geglaubt, Isa würde lediglich in den Kerker geworfen werden und müsste seine Überzeugung vor Rom und Herodes vortragen. Natürlich hatte stets die Möglichkeit bestanden, dass es zum Schlimmsten kam – aber doch nicht so schnell!
Atemlos fuhr Salome fort. »Claudia Procula schickt uns, dich zu holen. Diese beiden Männer sind Diener, denen sie vertraut.« Maria blickte hoch und erkannte im Schein der Fackel ein Gesicht; es war der Grieche, der vor Jairus’ Haus den kranken Jungen auf den Armen getragen hatte.
»Sie werden dich zu Isas Kerker bringen. Claudia hat sich darum gekümmert, dass die Wachen bis zum Morgengrauenabgezogen sind. Dies kann deine letzte Chance sein, ihn zu sehen. Aber wir müssen rasch gehen.«
Maria bat sie, einen Augenblick zu warten, und ging zur Hohen Maria. Sie wusste, die Ältere würde den Weg zu Isa nicht mit der erforderlichen Eile bewältigen können, doch der Anstand gebot, dass sie Isas Mutter den Vortritt ließ.
Die Hohe Maria küsste ihre Schwiegertochter auf die Wange. »Gib diesen Kuss meinem Sohn. Sage ihm, morgen bin ich bei ihm, komme, was wolle. Geh mit Gott, meine Tochter.«
Maria und Salome beeilten sich, mit den schweigsamen Männern Schritt zu halten, die rasch zum östlichen Ende der Stadt eilten. Maria hatte noch ein paar Sekunden gebraucht, um den roten Schleier der Nazarener-Priesterin gegen einen schlichten
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