Das Magdalena-Evangelium: Roman
Tod.
Die erzwungene Trennung war beiden sehr schwer gefallen. Salome war deprimiert, weil sie ihre Ausbildung zur Priesterin nicht vollenden konnte und weil sie von den Menschen getrennt war, die sie mehr liebte als ihre Familie. Für Maria war es eine weitere bittere Folge des ungerechten Urteils, das man nach Johannes’ Hinrichtung über sie beide gefällt hatte.
Salome stieß einen Ruf des Entzückens aus, als sie die kleine Tamar im Gras gewahrte. »Schau sie nur an! Sie ist dein Ebenbild!«
Maria nickte lächelnd. »Von außen betrachtet, ja. Doch innerlich schlägt sie bereits ihrem Vater nach.« Und sie erzählte einige Geschichten über ihre Tochter, die seit der Zeit des Laufenlernens Beweise ihres Andersseins gegeben hatte. Zum Beispiel hatte sie durch bloßes Handauflegen ein Lamm geheilt, das in einen Graben gefallen war. Vor kurzem war Tamar drei geworden, doch in ihrer Sprachentwicklung war sie weit voraus, denn sie konnte Griechisch genauso gut wie Aramäisch.
»Sie hat wirklich Glück, dass sie solche Eltern hat«, sagte Salome, und ihre Miene wurde düster. »Diese Eltern müssen wir ihr erhalten, und deshalb bin ich gekommen. Maria, ich soll dir eine Botschaft aus dem Palast bringen. Isa ist in großer Gefahr.«
»Lass uns hineingehen, damit wir ungestört sind und diese kleinen Ohren«, Maria machte eine Handbewegung zu Tamar, »uns nicht belauschen.«
Sie wollte sich hinunterbeugen, um Tamar auf den Arm zu nehmen, wurde aber durch ihren schwellenden Bauch daran gehindert. Salome streckte ihre Arme aus. »Komm zu deiner Schwester Salome«, sagte sie. Tamar stutzte, schaute die unbekannte Frau an, dann suchte der fragende Blick die Mutter. Doch dann, mit einem Lächeln, bei dem sämtliche makellosen weißen Zähnchen blitzten, sprang das kleine Mädchen in die Arme der herodianischen Prinzessin.
Zusammen traten sie ins Haus, und Maria bat Martha, Tamar zu nehmen.
Martha nahm Salome die Kleine ab. »Komm, kleine Prinzessin, wir suchen deinen Bruder.«
Johannes hatte Lazarus auf die Felder begleitet. Martha hatte begriffen, dass Salome und Maria ungestört sein wollten, und nahm die Kleine mit nach draußen.
Als sie aus der Tür waren, wirbelte Salome herum und nahm Marias Hand.
»Hör mir zu, es ist wichtig! Mein Stiefvater ist heute bei Pontius Pilatus gewesen, und ich habe ihn begleitet. Herodes reist übermorgen nach Rom und brauchte den Bericht des Prokurators. Ich habe vorgeschützt, ich wolle Claudia Procula, Pilatus’ Frau, besuchen, damit ich ihn begleiten durfte. Claudia ist die Enkelin von Kaiser Augustus, und ich wusste, dass mein Stiefvater mir den Besuch nicht abschlagen würde. Aber das war natürlich nicht der wirkliche Grund. Ich wusste, dass du, Isa und die anderen hier sein würden. Wo ist die Hohe Maria?«
»Sie ist auch bei uns«, antwortete Maria. »Sie und ein paar der anderen Frauen übernachten heute bei Josefs Familie. Morgen kann ich dich zu ihr bringen, wenn du willst.«
Salome nickte und fuhr fort. »Ich habe die Ausrede mit Claudia gebraucht, um zu erfahren, wie die Nazarener in Jerusalem aufgenommen worden sind. Aber ich hätte mir nicht träumen lassen, was Claudia mir erzählen würde! Maria, ist das nicht unglaublich?«
Maria war nicht sicher, was Salome meinte. »Was denn?«
Salomes schräg geschnittene, dunkle Augen weiteten sich. »Du weißt es gar nicht? O Maria, es klingt wie ein Märchen! An dem Abend, als Isa Jairus’ Tochter von den Toten erweckte – erinnerst du dich an die Frau, die in der Menge stand? Bei ihr war ein Grieche, der ein krankes Kind auf dem Arm trug, einen kleinen Jungen.«
Unvermittelt stand Maria die Szene wieder vor Augen. Das Gesicht dieser Frau hatte sie die beiden letzten Nächte vor dem Einschlafen vor sich gesehen. »Ja«, erwiderte sie. »Ich habe es Isagesagt, und er hat sich zu ihr umgedreht und ihr Kind geheilt. Das ist alles, was ich darüber weiß – außer vielleicht noch, dass diese Frau nicht wie eine aus dem einfachen Volk erschien. Und eine Jüdin war sie gewiss nicht.«
Salome lachte hell auf. »Maria, diese Frau war Claudia Procula. Isa hat das einzige Kind von Pontius Pilatus geheilt!«
Maria war völlig überrascht. Doch nun ergab alles einen Sinn: dieses Gefühl der Vorahnung und die Überzeugung, dass in jenem Augenblick Größeres geschehen war als eine bloße Heilung.
»Wer weiß davon, Salome?«
»Niemand außer Claudia, Pilatus und dem griechischen Sklaven. Pilatus hat seiner Frau verboten,
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