Das Magdalena-Evangelium: Roman
schwarzen auszutauschen, wie Salome ihn trug. »Ich habe einen Boten zu Martha geschickt«, berichtete die herodianische Prinzessin. »Isa möchte die Kinder sehen, wie er Claudias Diener aufgetragen hat.« Sie deutete auf den griechischen Sklaven. »Er hat gewusst, dass du keine Zeit haben würdest, sie aus Bethanien zu holen, wenn du Isa noch einmal sehen wolltest.«
Marias Gedanken rasten. Sie wollte nicht, dass Tamar und Johannes etwas Schreckliches zu sehen bekämen, und doch: Sollte das Schlimmste eintreten, musste Isa die Kinder ein letztes Mal sehen dürfen. Der kleine Johannes war ebenso sein Kind wie Tamar; Isa machte in seiner bedingungslosen Liebe keinen Unterschied.
Morgen, sobald die Sonne aufging, musste sie für Sicherheit und Schutz der Kinder sorgen. Maria betete inbrünstig, doch für einen Plan, wie sie die Kinder zu Isa bringen sollte, blieb keine Zeit mehr. Schon waren sie vor der Festung angelangt, in der Isa gefangen gehalten wurde. Bis jetzt hatte die Dunkelheit sie schützend eingehüllt, sodass sie unbemerkt vorankamen,doch jetzt waren sie gezwungen, eine lange Außentreppe hinunterzusteigen, die von Fackeln erleuchtet wurde.
Der Zenturio befahl ihnen, zu halten, und sie warteten, bis der Grieche sich gründlich umgesehen hatte. Dann lief der Sklave zum Fuß der Treppe voraus und gab das Signal, dass Maria hinunterkommen sollte. Salome blieb als Wachposten oben stehen, während der Grieche vor dem Eingang des Kerkers Aufstellung bezog. Maria und der Zenturio eilten die Treppe hinab und begaben sich in die Gänge des Kerkers.
Der Mann hielt die Fackel hoch, um den Weg in dem unterirdischen Labyrinth auszuleuchten. Maria folgte ihm auf dem Fuße, wobei sie versuchte, die schmerz- und angsterfüllten Schreie zu überhören, die von den Wänden widerhallten. Sie wusste ja, dass es nicht Isa war, der da schrie; gleichgültig, welche Schmerzen er erleiden musste, nie entfuhr ihm ein Schrei – das lag einfach nicht in seiner Natur. Doch Maria spürte tiefes Mitleid mit den armen Seelen, die in diesem römischen Gefängnis auf ihr Urteil warteten.
Der Zenturio holte unter seiner Tunika einen Schlüssel hervor und sperrte die Zelle auf, dann ließ er Maria ein.
Jahre später sollte Maria herausfinden, wie Claudia und Salome es geschafft hatten, den Schlüssel an sich zu bringen und die Wachen von ihren Posten abzuziehen – es hatte eine nicht unerhebliche Bestechungssumme von Claudia und persönliche Gefälligkeiten der Prinzessin erfordert. Maria sollte diesen beiden Frauen ein Leben lang dankbar sein: der Römerin Claudia Procula und ihrer Nazarener-Schwester, der missverstandenen Salome. Dankbar nicht nur für diese Nacht, sondern auch für ihre Hilfe an dem schrecklichen Tag, der folgen sollte.
Maria musste einen Aufschrei der Verzweiflung unterdrücken, als sie Isa sah. Er war brutal geschlagen worden, Blutergüssebedeckten sein schönes Gesicht. Sie spürte, dass er ein Zusammenzucken vermied, als er aufstand, um sie in die Arme zu schließen.
Schaudernd betrachtete sie sein misshandeltes Antlitz und stellte die Frage: »Wer hat dir das angetan? Die Männer von Kaiphas und Hannas?«
»Schhh. Hör zu, meine Maria, denn ich habe wenig Zeit und vieles zu sagen. Schuldzuweisungen ziehen nur Vergeltung nach sich. Wenn wir unseren Schuldigern vergeben, sind wir Gott am nächsten. Das ist es, was die Kinder Israels und die Welt zu lehren wir hier sind. Nimm dies mit, und lehre es jeden, der hören will – mir zum Gedenken.«
Seine Worte erschreckten Maria. Sie konnte es nicht ertragen, wenn Isa in dieser Weise über sich selbst sprach, als ob sein Tod beschlossene Sache wäre. Er spürte ihre Verzweiflung und fuhr behutsam fort:
»Gestern Abend in Gethsemane betete ich zu Gott, unserem Vater. Ich bat ihn, diesen Kelch an mir vorübergehen zu lassen, wenn dies sein Wille wäre. Doch er tat es nicht. Er tat es nicht, weil dies sein Wille ist. Es muss so geschehen, verstehst du? Die Menschen werden das Reich Gottes nicht verstehen können, wenn man ihnen kein unanfechtbares Beispiel gibt. Dieses Beispiel werde ich sein, ich werde ihnen zeigen, dass ich für sie sterben kann, sterben ohne Schmerzen und ohne Furcht. Gott der Herr hat mir den Kelch gereicht, und ich habe von ihm getrunken, freudig getrunken. Es ist vollbracht.«
Nun konnte Maria die Tränen nicht mehr zurückhalten, doch sie vermied jedes Geräusch, das sie verraten konnte. Isa versuchte, sie zu trösten.
»Du musst jetzt
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