Das Magdalena-Evangelium: Roman
Westen gehen. Das überlasse ich dir, Maria. Du wirst wissen, auf welche Weise das Bekenntnis der Nazarener in die Welt gebracht werden kann. Folge deinem Herzen, und vertraue auf Gottes Führung.«
»Und was soll aus dem kleinen Johannes werden?«, stellte Maria die Frage nach dem dritten Kind. Isa hatte den Jungen immer wie seinen eigenen Sohn behandelt, aber ihm war ein anderes Schicksal bestimmt als seinen Geschwistern.
Isas Blick wurde düster, weil er die Zukunft ahnte. »Obwohl noch so jung, ist Johannes bereits starrköpfig und schwankend in seinen Gefühlen. Du bist seine Mutter und wirst ihm den rechten Weg weisen, aber Johannes braucht auch den Einfluss von Männern, um seine Unruhe zu zügeln. Petrus und Andreas mögen ihn sehr, und wenn Johannes ein wenig älter ist, mag es gut sein, ihn in ihre Obhut zu geben.«
Isa musste nicht deutlicher werden: Maria wusste genau, was er meinte. Petrus und Andreas waren einst Anhänger des Täufers gewesen; sie kannten einander seit ihrer Kinderzeit in Galiläa, als sie zum Unterricht in den Tempel von Kapernaum gegangen waren. Petrus und Andreas verehrten den kleinen Johannes als Sohn eines mächtigen Propheten und als Isas Stiefkind.
»Einem Menschen möchte ich noch ein Wort des Trostes hinterlassen«, sagte Isa. »Der Römerin Claudia Procula sollst du sagen, dass ich tief in ihrer Schuld stehe. Sie hat so viel gewagt, damit du herkommen konntest, und dafür danke ich ihr. Sag ihr, sie soll nicht zu hart über ihren Mann urteilen. Auch Pontius Pilatus muss seinen Herrn wählen, und ich sehe, dass er schlecht wählen wird. Doch am Ende wird seine Wahl dazu führen, dass Gottes Plan erfüllt wird.«
Isa gab noch weitere Anweisungen, manche davon geistiger, andere von praktischer Art. Dann gab er Maria als letzte Worte auf den Weg: »Was immer morgen geschieht, du musst stark sein. Hab keine Angst um mich, denn ich selber fürchte mich nicht. Ich bin es zufrieden, den Kelch hinzunehmen und zu meinem Vater im Himmel zu gehen, Maria. Sei die Führerin unserer Anhänger, und habe keine Angst. Du bist eine Königin, du bist eine Nazarenerin, und du bist meine Frau.«
Erschüttert stolperte Maria hinter Salome durch die Straßen Jerusalems, während am Himmel die ersten Anzeichen des nahenden Tages erschienen. Die Prinzessin verfügte über ein sicheres Haus und hatte ihren Boten angewiesen, Martha und die Kinder dorthin zu bringen. Nachdem Maria sicher untergebracht war und auf ihre Schwägerin und die Kinder wartete, machte sich Salome auf die Suche nach einem weiteren Boten, den sie zur Hohen Maria und den anderen im Garten Gethsemane schicken wollte.
In einem anderen Haus in Jerusalem trug Claudia Procula, die Frau des Pontius Pilatus, schwer an der furchtbaren Last, die ihrer eigenen Familie heute aufgebürdet werden würde. Erst als der Grieche ihr berichtet hatte, dass die Frau des Nazareners den Gefangenen besucht habe, hatte sich Claudia dem Schlaf der Erschöpfung hingegeben.
Nun erwachte sie in kalten Schweiß gebadet. Der unheimliche Traum hielt sie noch in seinen Fängen, sie spürte seinen Nachhall in ihrem Schlafgemach. Wieder schloss sie die Augen, doch die Bilder wollten nicht weichen, ebenso wenig wie der vielstimmige Chor, der in ihren Ohren tönte. Ein Chor vonHunderten, womöglich Tausenden von Stimmen, der immer wieder dieselben Worte skandierte: »Gekreuzigt unter Pontius Pilatus, gekreuzigt unter Pontius Pilatus.« Und noch etwas anderes riefen die Traumstimmen unentwegt, aber Claudia konnte nur diese vier Worte verstehen.
So beunruhigend dieser albtraumhafte Sprechgesang auch war, schlimmer noch waren die Bilder. Zuerst träumte Claudia von Kindern, die auf einem grasigen Hügel unter der Frühlingssonne tanzten. Isa stand mitten unter den Kindern, die alle in Weiß gekleidet waren. Eines der lachenden, tanzenden Kinder war ihr Sohn Pilo, und auch die junge Smedia fehlte nicht. Dann kamen Menschen auf den Hügel, Menschen jeden Alters, alle in Weiß gekleidet, lächelnd und singend.
Claudia erkannte in einem der Ankommenden Praetorus, den Zenturio, dessen Hand Isa geheilt hatte. Dies hatte Praetorus ihr erzählt, nachdem er die Gerüchte über Pilos wundersame Heilung vernommen hatte. Als Claudia klar geworden war, dass sämtliche Menschen in diesem Traum, ob Kind oder Erwachsener, von Isa geheilt worden waren, erfuhr die Traumlandschaft eine Veränderung. Der fröhliche Tanz war vorbei. Der Himmel verdunkelte sich. Und der
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