Das Magdalena-Evangelium: Roman
stark sein, meine Taube, denn du wirst den Rechten Weg der Nazarener hinaustragen und der Welt verkünden. Die anderen werden ebenfalls ihr Bestes tun, nach dem Abendmahl habe ich es jedem Einzelnen von ihnen eingeschärft. Doch nur du kennst mein ganzes Fühlen und Denken, unddeshalb musst du die Lenkerin unserer Gemeinde werden und nach dir unsere Kinder.«
Maria versuchte, ihrer Verwirrung Herr zu werden. Sie musste sich auf Isas letzte Bitten konzentrieren, nicht auf ihren eigenen Kummer. Später bliebe genug Zeit zu trauern. Nun musste sie sich seines Vertrauens würdig erweisen.
»Isa, du weißt, dass einige der Männer mich nicht mögen. Manche werden mir nicht folgen wollen. Obgleich du sie gelehrt hast, Frauen als gleichberechtigt zu behandeln, fürchte ich, dass diese Einstellung schwinden wird, wenn du fort bist … Wie soll ich ihnen deiner Meinung nach klarmachen, dass du mich zur Führerin der Nazarener erkoren hast?«
»Ich habe heute Nacht viel darüber nachgedacht«, erwiderte Isa. »Zunächst einmal hast du das Buch der Liebe – du allein.«
Maria nickte. Isa hatte einen beträchtlichen Teil seiner Zeit als Lehrer darauf verwandt, den Glauben der Nazarener und seine Überzeugungen in einem Werk festzuhalten, das sie das »Buch der Liebe« nannten. Auch die anderen Jünger wussten davon, aber Isa hatte es niemandem außer Maria gezeigt. Es lag wohl verwahrt in ihrem Heim in Galiläa.
»Ich habe immer gesagt, das Buch der Liebe werde niemals das Tageslicht erblicken, solange ich lebe, denn während meiner Lebenszeit konnte es nicht anders als unvollständig sein«, fuhr Isa fort. »Gott hat mich immer wieder Neues gelehrt, jede Minute, jeden Tag meines Lebens. Jeder Mensch, den ich getroffen habe, hat mir neues Wissen über die Natur Gottes gegeben. Diese Dinge habe ich im Buch der Liebe niedergelegt. Wenn ich nicht mehr bin, musst du das Buch nehmen und zum Eckpfeiler unserer Lehre machen.«
Maria nickte bewegt. Das Buch der Liebe war gewiss ein wunderbares und mächtiges Denkmal für alles, was Isa in seinem Leben gelehrt hatte. Seine Jünger würden voller Ehrfurcht daraus lernen.
»Noch etwas, Maria. Ich werde den Menschen ein Zeichenhinterlassen; sie sollen wissen, dass du meine erwählte Nachfolgerin bist. Habe keine Angst, kleine Taube, denn ich werde der Welt kundtun, dass du mir unter all meinen Jüngern die liebste bist.«
Isa legte seine Hände auf Marias angeschwollenen Leib. Es gab noch so vieles zu sagen. »Dieses Kind, das du trägst, unser Sohn, ist vom Blute der Propheten und Könige, wie auch unsere Tochter. Ihre Nachkommen sollen in der Welt ihren Platz einnehmen, das Wort vom Reich Gottes verkünden und das Wort aus dem Buch der Liebe, damit alle Menschen erfahren, was Frieden und Gerechtigkeit bedeuten.« Das Kind in Marias Bauch strampelte als Antwort auf die Prophezeiung seines Vaters. »Diesem Kind ist es bestimmt, zu den Inseln im Westen zu gehen und dort die Botschaft des Rechten Weges zu verkünden. Ich habe meinem Onkel Josef Anweisungen erteilt, wie dieses Kind aufzuziehen ist. Du musst Josef vertrauen und dieses Kind ziehen lassen nach dem Willen Gottes.«
Maria widersprach nicht. Josef war ein mächtiger Mann, klug und stark und weltgewandt. Als erfolgreicher Händler hatte er weite Reisen unternommen. Als junger Mann hatte Isa Josef zu den nebelverhangenen grünen Inseln westlich von Gallien begleitet. Einmal hatte er Maria erzählt, dass er beim dortigen Aufenthalt die Vorahnung gehabt habe, die Lehren der Nazarener würden sich unter dem wilden Volk mit den blauen Augen verbreiten, das auf diesen Inseln lebte.
»Und du musst ihn Jeshua-David nennen, zum Gedenken an mich und den Begründer unseres Königshauses. Der größte König, der je auf dieser Erde herrschen wird, wird von seinem Blut abstammen.«
Maria stimmte Isas Bitte zu, dann fragte sie: »Was rätst du mir zu unserer Sarah-Tamar?«
Isa lächelte bei der Erwähnung seiner kostbaren Tochter. »Unsere Tamar bleibt bei dir, bis sie eine erwachsene Frau ist; dann wird sie ihren eigenen Weg gehen, denn sie besitzt deine Stärke. Doch in Israel wird es für dich und die Kinder nicht mehrsicher sein, das habe ich gesehen. Deshalb habe ich Josef gebeten, dass er dich und jeden anderen der Jünger, der den Wunsch dazu äußert, nach Ägypten bringt. Alexandria ist eine Stadt der Gelehrten, dort sind unsere Anhänger sicher. Du kannst dich entscheiden, dortzubleiben, du kannst aber auch weiter nach
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