Das magische Land 2 - Das Amulett der Schlange
Für eine Frau aus Lys war sie recht groß, aber er war ein gutes Stück größer als sie, schlank, aber nicht schmächtig und leichtfüßig wie ein Tänzer oder ein Fechter.
Er war auch ein Magier. Es fiel nicht gleich ins Auge: Er war von subtilen Schutzzaubern umgeben, die beinahe unsichtbar waren. Dies ließ auf große Macht und beachtliche Fähigkeiten schließen.
Sie fragte sich, ob der König davon wusste. Mit Sicherheit. Dies war ein außerordentlich gut aussehender Mann, und seine Anwesenheit bei Hofe war mit Sicherheit kein Zufall.
Sie musste sich verheiraten; das stand außer Frage. Konnte sie diesen Mann heiraten? Es war nicht unmöglich. Sie müsste ihn zuerst gut kennen lernen und sicher sein, dass sie ihm vertrauen konnte.
Dafür blieb noch genug Zeit. Heute musste sie sich ausruhen und essen, und er hatte es als Erster in der Halle bemerkt. Sie würde nicht gleich weich werden, nur weil er Augen im Kopf hatte, aber es machte sie ihm gewogen. Prinz Esteban verließ Averil an der Tür zu ihren Gemächern. Er versuchte nicht, sich hineinzudrängen, und er äußerte auch keine frechen Reden. Als er ihr die Hand küsste, streiften seine Lippen kaum ihre Haut, eine Geste, die vorzügliche und rücksichtsvolle Hochachtung ausdrückte.
Er hatte Gereint vollkommen aus ihren Gedanken verscheucht. Ihr Schlaf in dieser Nacht war tief und traumlos, aber beim Aufwachen erinnerte sie sich sofort wieder an Estebans Berührung. Erst da kam ihr eine andere, viel beunruhigendere Möglichkeit in den Sinn.
Es konnte ein Zauber sein. Oder vielleicht wollte ihr Körper ihr sagen, dass es an der Zeit war, dass sie bereit war zu tun, was das Gesetz von ihr forderte. Sie würde jeden Mann in Erwägung ziehen, der ihr vorgestellt wurde. Das hatte sie versprochen, und sie würde ihr Versprechen einhalten.
Kapitel 4
Die Schar der Botschafter, Müßiggänger und Freier sammelte sich bereits im Morgengrauen. Nachdem Averil aufgestanden, angezogen und für den Tag bereit war, drängten sie sich schon vor ihrer Tür. Ihre Wachen hatten alle Mühe, sie fernzuhalten.
Averil beauftragte ihre Dienerinnen mit dem Separieren von Boten und Müßiggängern und dem Einsammeln von Botschaften, Liebesbriefen, Bouquets und Pergamentrollen mit Gedichten, die von Ringen, Edelsteinen oder Perlenkettchen zusammengehalten wurden. Es war ein eindrucksvolles Spektakel, das all ihre Erwartungen weit übertraf.
»Offensichtlich habt Ihr einen bleibenden Eindruck hinterlassen, Comtesse«, sagte Jennet trocken.
»Sie nennen mich die Goldene Rose von Quitaine«, sagte Averil. »Glaubst du, dass auch nur einer von ihnen die Ironie darin erkennt?«
»Ein oder zwei vielleicht«, sagte Jennet. »Ich habe noch nie so viele gelbe Rosen gesehen.«
»Oder so viel schlechte Poesie.« Averil schüttelte den Kopf über das Pergament mit der Perlenschnur. Der Dichter hatte es offensichtlich an eine andere Dame geschrieben, deren Haar an den Glanz einer Butterblume erinnerte. Das Wort Butterblume hatte er durchgestrichen und »ein neuer Kupferpfennig« darüber geschrieben.
Besser ein Pfennig als eine Karotte, dachte sie. Die Perlen waren hübsch; sie hängte sie ihrer jüngsten Zofe um den Hals, deren Haut von ähnlich schimmernder Blässe war. Dann beschloss sie, die übrigen Geschenke unter den anderen Dienerinnen aufzuteilen, bis jede ein neues Stückchen Zierrat ihr Eigen nennen konnte.
Nicht alle zeigten gebührende Dankbarkeit, aber zumindest hatte Averil sich an diesem Morgen keine Feinde gemacht. Jetzt musste sie noch dem Hof gegenübertreten und verschiedene Einladungen in Erwägung ziehen: einen Ball, eine Jagd, eine Soiree.
Die Jagd war verlockend, ebenso der Vortrag eines Gelehrten an der Universität. Doch es wäre unhöflich, eine der Einladungen so überstürzt anzunehmen. Eine Dame sollte jede sorgsam abwägen, um schließlich jene anzunehmen, die sie für die angemessenste hielt.
Averil hatte fleißig gelernt, aber sie war nicht für dieses Leben erzogen worden wie all die Höflinge und Hofdamen hier. Sie konnte Magie ausüben und ein Herzogtum regieren; sie konnte sogar einen Hof befehligen, wenn es ihr eigener war. Dieses Leben jedoch war ihr fremder als sie erwartet hatte. Sie würde es schaffen. Sie musste. Aber zuerst hatte sie Entscheidungen zu treffen.
Sie sollte einen gewissen Teil der Meute zu einer Privataudienz hereinbitten; das wurde von ihr erwartet. Aber wen und für wie lange, das waren Fragen, die viel Takt und
Weitere Kostenlose Bücher