Das magische Land 2 - Das Amulett der Schlange
wurde Averil ein Moment des Alleinseins zuteil. Jennet hatte die Dienerinnen angewiesen, das Bad für die Herrin zu richten und ihr Gewand für den Empfang bei Hofe bereitzulegen. Dadurch blieb Averil sich selbst überlassen, wenn auch nur für kurze Zeit. Sie zog Dylan Fawrs Geschenk aus dem Mieder. Es war nicht größer als der Nagel ihres kleinen Fingers, aber als sie es in der Hand hielt, schaute sie hinab in einen endlosen Raum.
Der Raum war voller Sterne: ein Firmament von Kristallen mit hauchdünnen Silberfäden verbunden.
Sie schnappte nach Luft. Dylan Fawr hatte ihr ein Geschenk von unermesslichem Wert gegeben: das Netz, das die Ritter der Rose miteinander verband. Durch dieses Netz konnte jeder Mann mit jedem anderen sprechen und, wenn er es wünschte, sehen, was er tat, und wie und mit wem er es tat. Sie nahmen sie wahr mit Willkommensfreude und sichtlicher Erleichterung. Nach so langer Zeit zu erfahren, dass die Rose wieder bei ihr war, war ein äußerst sonderbares Gefühl, halb Freude und halb Furcht. Wenn sie an diesem Ort auch nur den leisesten Verdacht auf das erregte, was sie in Händen hielt, könnte sie den Orden in Prydain zerstören, so wie er in Lys zerstört worden war.
Dieser Vertrauensbeweis war fast zu groß, um ihn zu ertragen. Sie umschloss den Kristall mit den Fingern.
Das Netz war noch in ihr. Sie flehte Gott an, dass sie nicht beides, den Kristall und sich selbst, durch dunkle Hexereien, die der König an ihr erproben mochte, verlieren würde.
Sie konnte ihn zurückgeben. Höchstwahrscheinlich sollte sie das tun. So beängstigend die Sache auch war, so hatte sie doch etwas Tröstliches. Sie war nicht allein an diesem fremden Ort.
Ihr Bad war fertig, ihre Zofen warteten. Sie behielt den Kristall in der Hand und rappelte sich hoch.
Ein Gedanke schoss ihr in den Kopf. Er war ungestüm und vielleicht verrückt, und dennoch erfüllte er ihren Geist, bis sie nicht mehr anders konnte als ihm zu folgen.
Der Kristall lag kalt auf ihrer Zunge und hatte einen seltsamen, süßlichen Geschmack. Sie schluckte ihn hinunter.
Sie hatte gefürchtet, seine scharfen Ränder könnten ihr Schmerzen zufügen, aber er schmolz in ihrem Hals und erfüllte sie mit kühler Süße. Das Netz der Rose war jetzt wirklich ein Teil von ihr geworden, und sie konnte es ganz umfassen. Ihre Haut prickelte, ihre Ohren summten.
Für einen kurzen Moment konnte sie die Matrix der Magie sehen, von der die Erde zusammengehalten wurde. Sie war kunstvoller als jedes Werk eines Magiers und unvorstellbar riesig.
Es war mehr als ihr Geist aufnehmen konnte. Ihr sterbliches Sehvermögen kehrte zurück und ließ die übernatürliche Klarheit verschwimmen. Aber die Erinnerung daran würde sie nie verlassen.
Sie war wunderschön und tödlich — so wie sie sein musste, um zu überleben. Sie hatte etwas getan, was nicht rückgängig zu machen war; es konnte sich gegen sie wenden und sie zerstören, oder es konnte sie alle retten. Nur die Zeit und der gute Gott würden ihr sagen, ob sie das Richtige getan hatte. n diesem Abend wurde am Hof ein Maskenball veranstaltet, eine Frivolität, von der Averil zwar schon gehört, die sie jedoch noch nie erlebt hatte. Jennet bestand darauf, sie solle so weitermachen wie bisher und ein goldenes, mit Rosen verziertes Gewand tragen. Eintönigkeit war also offenbar keine Sünde, wenn sie einen Modetrend setzte.
Kapitel 5
Mittlerweile war Averil an glitzernde, extravagante Kleider gewöhnt. Sie hatte allerdings nicht erwartet, unter all den Masken und seltsamen Kostümen so viele auffällige Ähnlichkeiten zu den Wildvolkwesen, die überall in Quitaine Einzug gehalten hatten, zu entdecken. Hier wie dort sah sie Krallen und Hörner und Flügel und Augen, die zur Musik der Trommeln und Flöten tanzend durch die Halle wirbelten.
Wussten sie, wie uralt diese Musik war, oder wem sie damit Ehrerbietung erwiesen? Sie vermutete, dass sie es nicht wussten. Sie hatten sich im Netz ihrer Ränke verfangen, die derart geistlos waren, dass sie nur staunen konnte. Prinz Esteban schien sie nicht zu verfolgen, aber als sie während einer Tanzpause die Stufen zur Halle hinunterschritt, war er plötzlich an ihrer Seite und beugte sich über ihre Hand. Er war gekleidet wie ein Feenprinz in Schwarz und Silber mit einer Maske, die aussah wie ein mit Juwelen besetzter silberner Falter.
»Keine Schmeicheleien«, warnte sie ihn. »Keine schönen Worte. Würdet Ihr mich diesen Tanz lehren?«
»Mit Vergnügen,
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