Das Mal der Schlange
Augen.
„ Victor!“, überrascht setzte sie sich auf, „Was tust du denn hier?“
„ Hallo Emmaline! Ich muss mit dir reden“, er sah sich suchend und etwas hilflos um.
Emmaline breitete ihre Jacke neben sich aus und machte eine einladende Handbewegung.
Dankbar, keine Grasflecken auf seine helle Hose zu bekommen, setzte er sich mit angezogenen Beinen darauf und verschränkte die Arme vor den Knien.
„ Oh Victor“, lachte sie, „Du passt nicht in die freie Natur!“, ihr Blick glitt über sein blütenweißes Hemd, das Jackett, das er vorsichtig neben sich gelegt hatte, sein sorgfältig gekämmtes Haar. Er fühlte sich sichtlich unwohl.
„ Du gehörst in ein Restaurant, eine schicke Bar, irgendetwas Edles und vorzugsweise nach Sonnenuntergang.“
„ Nicht wahr?“, er entspannte sich etwas, erleichtert darüber, dass Emmaline ihn verstand, „Ich war seit achtzig Jahren nicht mehr in einem Park. Ich mag so etwas nicht. Im Laufe der Zeit habe ich mir einen nächtlichen Lebensrhythmus angewöhnt, der mir viel besser entspricht!“
„ Weshalb bist du dann hier?“
Er nahm seine Sonnenbrille ab und massierte sich mit Daumen und Zeigefinger den Nasenrücken.
„ Es ist schön, dich zu sehen, Schwester.“
„ Ich freue mich auch dich zu sehen, Bruder. Aber du bist sicher nicht den ganzen weiten Weg aus Schottland gekommen, weil du mit mir eine Tasse Tee trinken und ein Schwätzchen halten möchtest, nehme ich an. Also, warum bist du hier?“
„ Weil wir dachten, dass du am ehesten noch auf mich hören würdest, wenn es um etwas so Wichtiges geht.“
Erstaunt hob sie eine Augenbraue, „Und das wäre?“
„ Du.“
„ Ich? Ich bin nicht wichtig. Außerdem geht es mir gut.“
Nun glitten seine hellen Augen über ihr Gesicht, „Nein, Emmaline, das stimmt nicht. Du bist einsam. Seitdem du in London lebst, hast du an keinem Treffen der Jäger teilgenommen – du kennst die Familie hier nicht einmal! Du hast weder einen Jagdpartner, noch eine Freundin, wie damals Ilaria. Und du kapselst dich von allem ab.“
Emmaline verschränkte ablehnend die Arme, „Das sehe ich nicht so. Ich habe mich der hiesigen Familie vorgestellt und erfülle alle meine Aufgaben gewissenhaft und umgehend. Was wollt ihr mehr?“
„ Das ist doch kein Leben, Em! Du richtest dich zugrunde, wenn du so weiter machst! Wir sind beunruhigt, Georgianna und ich. Deshalb bin ich hierher gekommen. Um herauszufinden, was wir tun können, damit es dir wieder besser geht.“
Sie lachte kurz, „Das ist wirklich lieb, Victor, und ich schätze es sehr, aber glaube mir, es gibt wirklich nichts, was irgendjemand für mich tun könnte. Ich lebe genauso, wie ich will.“
„ Einsam.“
„ Unabhängig. Ohne soziale Bindungen.“
„ Die eventuell Komplikationen verursachen könnten – ich verstehe“, sein silberweißes langes Haar glänzte, als er es mit der Sonnenbrille aus der Stirn schob, „Die Vermeidungstaktik.“
„ Victor! Das ist nicht fair! Ich habe den Tod meines Mannes zu verantworten! Ich kann so etwas nicht noch einmal durch machen!“
Er kniete sich vor sie und breitete seine Arme aus. „Das ist das Leben, Emmaline“, sagte er eindringlich, nach rechts und links schauend, „Kannst du mir sagen, ob diese junge Mutter dort drüben nächstes Jahr an einem Gehirntumor sterben wird? Oder ob das Kind dort morgen auf seinem Schulweg überfahren wird? Ob dieser alte Mann in ein paar Jahren noch immer jeden Sonntag hier spazieren gehen wird? Ob sich das Liebespaar auf der karierten Decke wegen einer Kleinigkeit streitet und sie ihn daraufhin verlässt? Ob der Junge dort am See gleich ins Wasser fällt? – Wir wissen nicht, was kommen wird. Wir wissen gar nichts! Aber wir sind Menschen, die miteinander leben. Sicher, die Zeitjäger sind ein wenig anders, aber auch wir leben in Familien, nicht allein. Weil es nicht gut ist – weil wir dafür nicht geschaffen sind!“
Emmaline ließ den Blick sinken.
Unbeirrt fuhr Victor fort, „Aus diesem Zusammenleben ergeben sich immer irgendwelche Konflikte, Probleme und Gefahren. Aber auch Freude, Liebe und Glück! Wenn du gewusst hättest, wie es endet – hättest du dann lieber auf Daniele verzichtet? Auf all die schönen Momente, die ihr gemeinsam hattet, auf die Liebe die er dir schenkte? Ich denke, er hätte sicher nicht auf dich verzichten wollen und er würde dich auch nicht für schuldig an seinem Tod halten. Massimo hat ihn auf dem Gewissen, nicht du! Hör auf damit, dir
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