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Das Marmorne Paradies: METRO 2033-Universum-Roman (German Edition)

Das Marmorne Paradies: METRO 2033-Universum-Roman (German Edition)

Titel: Das Marmorne Paradies: METRO 2033-Universum-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Kusnezow
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Blick des Mannes war entrückt, gläsern.
    »Eine Sache lässt mir keine Ruhe«, sagte der Chirurg, zu Polina gewandt. »In der Nacht, als wir ihm die Insekten aus dem Rücken gezogen haben, habe ich zwei davon mit dem Geigerzähler überprüft. Das Gerät ist fast durchgedreht. Und die Wunde unseres Patienten ließ es ebenfalls heftig ausschlagen. Außerdem hat er sich in dem Moment, als ich das letzte Tier aus ihm rausholte, wie wild aufgebäumt und geschrien.«
    »Ja, und ich dachte, ich hätte Denis im Flur gesehen …«
    »Ja, ja … Aber da war doch niemand?«
    »Natürlich nicht. Und ich habe den Jungen später gefragt. Er sagte, er sei zu Hause gewesen und habe geschlafen.«
    Der Arzt entgegnete: »Also, ich habe den Patienten bei der nächsten Gelegenheit wieder überprüft. Die Strahlung
war gesunken. Ich dachte sogar, das Gerät zeigt falsch an. Aber jetzt misst es gar keine Strahlung mehr! Dabei ist es doch völlig unmöglich, dass ich zusammen mit den verstrahlten Tieren auch die Strahlung aus dem Körper entfernt habe, das ist absoluter Unsinn! Außerdem … Ich habe das Gefühl, dass die Mundwerkzeuge dieses Ungeziefers hochgradig giftig sind und ihr Gift auch in den Körper dieses Kerls hier eingedrungen ist. Eigentlich kann er gar nicht überleben.«
    »Vielleicht ist sein Organismus besonders stark«, schlug Polina vor.
    »Tee«, ertönte plötzlich eine heisere Stimme hinter ihnen.
    Die beiden drehten sich abrupt um. Der Mann lag immer noch reglos da, seine blicklosen Augen starrten an die Decke.
    Der Chirurg trat zu ihm und beugte sich vor.
    »Was haben Sie gesagt?«, fragte er und begriff mit einem Mal, dass der Verletze ihn direkt anblickte.
    »Tee«, wiederholte dieser heiser. »Irgendwas zwischen Kuptschik und Tschifir …« Langsam schloss er die Augen.
    Der Chirurg richtete sich auf und blickte Polina an.
    »Wovon spricht er?«, fragte diese.
    »Jetzt wird so manches klarer«, murmelte der Arzt. »Unser Patient hier hat früher mal gesessen!«
    »Wie bitte?«
    »Er war ein Verbrecher. War inhaftiert. Seine Sprache verrät ihn. In den Straflagern hieß ein sehr kräftiger Tee Kuptschik . Und Tschifir ist die stärkste Form davon, die erreicht wird, indem man einen extrem hochdosierten Aufguss auskocht. Die Kerle dort hatten so ihre Techniken …«
    »Woher wissen Sie das?« Polinas Stimme klang überrascht.
    »Wenn du erst mal so viel gesehen hast wie ich … Aber er ist fast ohne Tätowierung, also hat er wahrscheinlich keine Verbindung zu den Dieben im Gesetz Ref. 6 . Nur die eine.« Dabei zeigte er auf die muskulöse Schulter des Kranken, die unter dem Bettlaken hervorragte und den halb verwischten blauen Schriftzug »MAX« erkennen ließ.
    Bis zum Ende des Tages kam der Patient nicht mehr zu Bewusstsein.
    Am darauffolgenden Morgen starb einer der ersten Koloniebewohner, ein älterer Mann, der in dem winzigen benachbarten Krankenzimmer gelegen hatte.
    Iwan Trofimowitsch war das ganze vergangene Jahr krank gewesen. Er hatte vor sich hingesiecht oder zumindest – das war nicht genau festzustellen – so getan, als ob er krank wäre. Mit vierundsechzig Jahren hatte der Mann, der in all den Jahren in der Kolonie stets lebensfroh und aktiv gewesen war, plötzlich angefangen, über Kopfschmerzen und Stechen im Bauch zu klagen. Er aß wenig und bewegte sich kaum, und es kam mehrmals vor, dass er nicht zur Arbeit oder zum Wacheinsatz am Tor erschien. Er wurde untersucht, aber man fand nichts Bedrohliches. Es regte sich der Verdacht, dass der Mann sich drücken wollte, und Sergej redete mehrmals ernst mit ihm, einmal rief ihn sogar das Oberhaupt der Kolonie zu sich. Man drohte ihm Strafen an, etwa, seine Ration zu kürzen, nach dem Motto: Wer nicht arbeitet, braucht auch nicht so viel zu essen.
    Aber nichts half. Er lebte allein, hatte sich mit keiner der hiesigen alleinstehenden Frauen zusammengetan, wobei niemand so genau wusste, ob er das nicht gewollt hatte oder
es ihm nicht gelungen war. Tagsüber lag er in seinem sieben Quadratmeter großen Zimmerchen und blätterte zum hundertsten Mal die alten, vergilbten Zeitschriften und Zeitungen durch, die jemand von oben mitgebracht hatte. Bücher wollte er nicht.
    Zwei Tage zuvor hatte er Polina erklärt: »Bald ist es so weit, meine Liebe. Dann werde ich Sie von Ihrer Pflicht hier befreien und den Weg nach oben antreten.« Tote wurden stets an der Oberfläche begraben.
    »Wohin wollen Sie?« Polina gab vor, sich über seine Worte zu ärgern, aber

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