Das Marmorne Paradies: METRO 2033-Universum-Roman (German Edition)
tatsächlich informierte sie sogleich den Arzt. Der Chirurg war wenig beeindruckt und tat das Gerede des Alten als Schrulle ab. Zu der gleichen Einschätzung kam Sergej, als Polina ihm abends von dem Vorfall berichtete. Dem Alten würde schon nichts passieren. Er würde eine Woche im Krankenhaus liegen und dann doch wieder zu sich nach Hause in sein Zimmerchen humpeln.
Aber Iwan Trofimowitsch behielt Recht. Nun war er vor Gott getreten.
Wenige Stunden nach seinem Tod wurde der Tote im Großen Saal verabschiedet. Es erschienen nur wenige, fast ausschließlich ältere Leute. Der junge Priester, Vater Serafim, las die Totenmesse. Der Beerdigungstrupp war zu diesem Zeitpunkt bereits zusammengestellt und bestand aus Sergej, seinem Nachbarn und Freund Marat – der früher als Chauffeur für einen kleinen Gebietsfürsten gearbeitet hatte –, dem Kommandeur der diensthabenden Wache Wladimir Danilowitsch, Vater Serafim und Mischa, einem jungen Kerl, den man eigens von einem anderen Arbeitsplatz abgezogen hatte.
Nachdem sie sich warm angezogen und den Leichnam sowie eine Schaufel auf eine Bahre gelegt hatten, drängten sich die fünf Männer durch die enge Schleusenkammer und stiegen zur Oberfläche hinauf.
Mischa, Sergej und Marat trugen die Bahre mit dem Toten, der überraschend schwer war, während Wladimir Danilowitsch mit dem Sturmgewehr im Anschlag um den Zug herumschlich und Vater Serafim leise betend neben der Trage herlief.
Es schneite in dicken, grauen Flocken. Himmel und Erde hatten sich fast völlig einander angeglichen, doch nach und nach erkannte Sergej den Unterschied: Der Himmel hatte eine dunklere, fast schwarze Färbung. Schreckliche Geräusche waren zu hören, als ob irgendwo in der Stadt, hinter einem der Häuser, jemand bei lebendigem Leib in Stücke zerfetzt würde.
Genaugenommen hatte Sergej sie noch nicht allzu oft zu Gesicht bekommen, jene furchtbaren Kreaturen, die durch die Strahlung entstanden waren, und er hasste es, an sie zu denken, ging allen Fragen aus dem Weg und schickte nicht selten dankbare Gebete zum Himmel, dass er im Traum nicht von ihnen heimgesucht wurde.
Wladimir Danilowitsch erkundigte sich per Handzeichen, ob alles in der üblichen Weise ablaufen sollte. Sergej nickte. Die Gruppe steuerte die kleine Kirche an, die sich wenige Kilometer von der Hochschule entfernt befand. So merkwürdig es war, aber das heilige Haus war das einzige weit und breit, das in all den Jahren kein einziges Mal von Raub, Zerstörung oder Vandalismus betroffen gewesen war.
Die kleine Kirche wurde allmählich baufällig, aber es war lediglich der Zahn der Zeit, der an ihr nagte. Ja, und dieser Verfall verlief irgendwie majestätisch und schön: Die Ikonen in ihrem Innern dunkelten nach, durch die Niederschläge löste sich allmählich das Blattgold von Kuppel und Kreuzen, an der einen oder anderen Stelle war der Zaun, der die Anlage umgab, windschief geworden … Doch auch in der neuen, furchtbaren Welt war das Bauwerk ein göttlicher Tempel, streng und friedlich, der alles, was die Menschen um ihn herum angerichtet hatten, demütig ertrug.
Die Begräbniszeremonie folgte einem festen Ritual. Zunächst wurde der Verstorbene auf einer Kirchenbank aufgebahrt und mit einem alten, verschlissenen Leichentuch bedeckt. Dann sprach Vater Serafim die Gebete. Im Sommer wurden daraufhin ältere Leichname, die schon eine gewisse Zeit auf der Bank unter den Ikonen verbracht hatten, im weitläufigen Friedhof um die Kirche herum begraben – solange der Platz dort reichte. Im Winter brachte man sie in den eisigen Keller hinunter, wo sie einer neben dem anderen ohne Zersetzungserscheinungen ausharrten, bis der Frühling kam.
Auch heute schien alles zunächst wie gewohnt zu laufen, doch erfasste Sergej eine düstere Vorahnung, als die Gruppe die Kirche betrat. Er blickte sich um, aber alles wirkte friedlich, und sogar die schrecklichen Geräusche entfernten sich, waren fast nicht mehr zu hören. Beim Eintreten überprüften sie gewohnheitsmäßig die Hintergrundstrahlung, die wie immer deutlich niedriger war als draußen. Man hätte sogar eine kurze Zeit ohne Atemschutzmaske
überleben können. Sie legten den Körper des Verstorbenen auf eine Bank und deckten ihn mit dem Leichentuch zu.
Doch dann hielt Sergej es nicht mehr aus und weihte seinen Freund Marat wie auch Wladimir Danilowitsch in seine Befürchtungen ein. Augenblicklich befahl Letzterer Mischa, sich draußen als Wachmann aufzustellen und bei der
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