Das Marmorne Paradies: METRO 2033-Universum-Roman (German Edition)
der Familie gelaufen, wo er Dina an ihrem ersten Morgen in der Kolonie untergebracht hatte, um herauszufinden, was da vorgefallen war.
»Ja, das habe ich auch gedacht«, unterbrach ihn der Kolonist. »Und sie aufgenommen. Aber, wissen Sie … sie ist tatsächlich …« Der Mann senkte die Stimme noch mehr. »Sie glaubt, unserer Sohn Ljoschka sei in Wirklichkeit ihr Sohn Ruslan. Sie nennt ihn Russik und spricht immer ganz liebevoll mit ihm. Einmal hat meine Frau mit ihm geschimpft, weil er die Hausaufgaben nicht gemacht hat oder irgend so was, da hat Dina sie so angekeift, dass sogar ich erschrocken bin. Wissen Sie, Sergej, wir sind friedliche Leute, und wir wollen keinen Streit, aber wenn das so weitergeht … Am Ende bringt sie Ljoschka noch ganz durcheinander, oder sie stürzt sich auf meine Frau. Was denkt sie sich eigentlich? «
Sergej fragte: »Kann ich mich darauf verlassen, dass Sie mich informieren, wenn Sie sie nicht mehr ertragen? Ich möchte nicht, dass diese unglückliche Frau wieder gezwungen ist, im Gewächshaus auf der Erde oder auf dem Betonboden in der Kantine zu schlafen.«
Der Mann war ganz in sich zusammengesunken, kratzte sich heftig am Bauch und nickte düster.
Sergej warf einen Blick zu Sina hinüber, die sich in der Zwischenzeit mit der Ehefrau unterhielt, eine Frage nach der anderen abarbeitete und die Antworten aufschrieb. Zielstrebig ging Sergej auf Dina zu.
Als sie bemerkte, wie er sich näherte, krümmte sie sich noch mehr zusammen, ließ den Kopf sinken und verbarg das Gesicht hinter ihren dichten schwarzen Haaren.
Er trat neben sie, zögerte einen Moment, ehe er sich ans andere Ende der Liege setzte. Er wollte herausfinden, was los war. Aber dann wurde ihm klar, dass Dina vermutlich nicht antworten würde. Jedenfalls nicht jetzt. Auch egal, dachte er, es hat keine Eile. Irgendwann werde ich ganz bestimmt mit ihr reden und alles aufklären, und danach kann ich eine Entscheidung treffen.
»Machen Sie sich keine Sorgen, Dina«, sagte er freundlich. »Es lässt sich alles wieder in Ordnung bringen. Ich sorge dafür, dass man Sie nicht wieder kränkt.«
Langsam hob sie den Kopf und schien etwas sagen zu wollen …
Aber in diesem Moment entstand Unruhe in der Wohnung.
»Papa.«
Sergej wandte sich abrupt um und sprang auf.
Denis stand in der Tür, er trug einen Pullover über dem Schlafanzug, und seine Schuhe waren nicht zugeschnürt. Sein Gesicht war verzerrt.
»Denis! Was tust du hier? Was ist los?« Er wollte zu seinem Sohn eilen, aber irgendetwas hinderte ihn daran, als stünde eine unsichtbare Wand zwischen ihnen.
Die Finger des Jungen hielten die Türklinke umklammert, und er zitterte heftig am ganzen Köper, unfähig, sich zu beruhigen. Die Gespräche verstummten, und alle Anwesenden blickten auf das Kind.
»Wie hast du mich gefunden?«
»Papa, Mama liegt im Sterben.«
4
Polina starb sechs Stunden später in Sergejs Armen in der Krankenstation. Sie war nicht mehr zu Bewusstsein gekommen, hatte jedoch im Fieber immer wieder wiederholt: »Versprichst du es? Versprichst du es?«
Die nächsten sieben Tage verbrachte Sergej in einem sumpfartigen Nichts. Er lebte nicht, ja existierte kaum, begriff fast nichts von dem, was vor sich ging, und erkannte nur mit Mühe die Leute um sich herum. Hätte die Möglichkeit bestanden, so hätte er sich vermutlich völlig dem Suff ergeben. Als Pjotr Saweljewitsch mit einer Flasche alten Kognaks aus seinen persönlichen Beständen zu ihm kam, um ihm sein Beileid auszusprechen, entkorkte Sergej augenblicklich wortlos die Flasche, setzte sie an und leerte sie in wenigen großen Zügen. Im ersten Moment fühlte er nichts als Schwindel im Kopf, Hitze und ein leichtes Brennen im Magen, aber nur Minuten später klappte er zusammen.
Nachdem er Polina mit einem grenzenlosen Gefühl der Fassungslosigkeit in die Krankenabteilung hinübergetragen hatte, starrte er sie die letzten sechs Stunden ununterbrochen an, während der Chirurg und Jakow im Hintergrund
herumhantierten und überlegten, was zu tun war. Er konnte nicht weinen. Spürte nur Entsetzen.
Die Tränen kamen später, als klarwurde, dass nichts mehr zu tun war. Er hielt Polina in den Armen. Sie war still und fast schwerelos. Leise sang er ihr ein Abschieds- oder Schlaflied, während er versuchte, sein Schluchzen zu unterdrücken, und presste sie an sich, als wollte er seinen Körper an sie abtreten und sie auf diese Weise retten.
Zwanzig Jahre – wie ein einziger Tag. Sie hatten so
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