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Das Marmorne Paradies: METRO 2033-Universum-Roman (German Edition)

Das Marmorne Paradies: METRO 2033-Universum-Roman (German Edition)

Titel: Das Marmorne Paradies: METRO 2033-Universum-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Kusnezow
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Schwarz-Weiß-Fernseher angesehen. Jetzt geht er ins Zimmer seines Vaters hinüber, um Musik zu hören. In der Ecke, neben der Balkontür steht ein lackiertes Holztischen mit hübschen gedrechselten Beinchen, auf dem Papas ganzer Stolz steht: das studiotaugliche Tonbandgerät namens Timbre, ein großer, extrem schwerer »Musiksarg«, wie seine Großmutter es stets genannt hat. Musikaufnahmen kauft der Vater entweder im Geschäft oder er überspielt sie bei Freunden auf Tonbänder der Marke Swema oder Tasma. Er hat Aufnahmen von Okudschawa, Wyssozki, Sewerny, Noschkin, Eduard Chil und für Mama welche von Pugatschowa und Rotaru Ref. 12 . Um an diese Aufnahmen zu kommen, fährt der Vater an seinen freien Tagen schon morgens früh weg und kehrt erst am Abend ziemlich angesäuselt und mit einer Tasche voller Bänder zurück. »Na, habt ihr beim Aufnehmen mal wieder einen gehoben«, brummt die Mutter. »Leg dich schlafen …« Seit er zehn ist, darf Petja selbstständig das Gerät einschalten, und manchmal schwänzt der Junge die Schule, nur um stundenlang Galitsch, Sewerny und Okudschawa zu lauschen.
    Der Vater hat auch geheime Bänder, die in eine feste Tüte eingewickelt im Sofa versteckt sind. Die Eltern denken, dass ihr Sohn nichts davon weiß, aber Petja hat das Versteck schon vor langer Zeit entdeckt und hört häufig mit seinen Freunden das Poem »Luka Mudischtschew Ref. 13 «, die unzensierte Fassung von Puschkins »Eugen Onegin« und die Hauskonzerte
von Konstantin Beljajew Ref. 15 . Aus irgendeinem Grund ist auch Erik Krol Ref. 14 in die geheime Phonothek geraten.
    Gerade hebt Petja eines der Couchkissen an und zieht die verbotene Tüte heraus. Ihr entnimmt er eine Schachtel aus festem Karton, auf dem in der kalligrafischen Schrift seines Vater geschrieben steht: Erik Krol. Der Junge legt den Netzschalter des Tonbandgerätes um, der Knopf schnalzt, und der schwere Studioapparat mit Röhrenelektronik beginnt vorzuglühen, summt und verströmt einen köstlichen Geruch. Immer wenn der Junge ein Band einlegt, hat er das Gefühl, er würde am Schaltpult eines Raumschiffes arbeiten. Jetzt setzt er die Plastikspule auf die linke Metallspindel, führt das Band an der Umlenkrolle und den großen Tonköpfen vorbei zur rechten Spule auf dem rechten Bandteller …
    Wieder schnalzt eine Taste. Das Band raschelt, fließt an den Tonköpfen vorbei; der Lautsprecher zischt.
    Hadre nicht, blick nicht so finster,
Lass doch die Eifersucht aufs Meer.
Ich lieb das Meer nicht mehr als dich,
Und so wie es lieb ich dich grad so sehr.
    Aber der Junge mag Lyrisches nicht besonders. Ihn reizt eher das Wilde, auch wenn er es nicht ganz versteht:
    Wenn ich von ’ner Fete mich nach Haus verdünnisiere,
muss ich mit dem Mond, verflixt noch eins, erst debattieren.
Denn dieser Schuft macht meiner Frau doch weis,
dass ich auf ihre Kosten mich bisweilen amüsiere.
    Nachdem er beide Seiten des Bandes gehört und dazu mitgesungen hat, ist Petja bester Laune. Sorgfältig räumt er die Bänder weg, schaltet das heiß gewordene Tonbandgerät aus und verlässt die Wohnung.
    Der Hof mit seinen Linden, Birken und Büschen ist von allen Seiten von Häusern gesäumt und macht einen heimeligen Eindruck. Nur ein paar junge Mütter mit Kinderwagen sitzen dösend auf den sonnigen Bänken. Nachdem Petja ein wenig umhergestreift ist, ohne ein bekanntes Gesicht zu treffen, lenkt er seine Schritte jetzt zu dem großen, roten Ziegelbau hinüber, dem Gebäude der Fabrikverwaltung. Dort befindet sich auch die Bibliothek, und der Junge liebt es, dort seine Zeit zu verbringen.
    Allein der Geruch nach Bücherstaub und Papier … Die hölzernen Regale vom Boden bis zur Decke, der knarrende Fußboden … Die Sonne scheint ungehindert zu allen Fenstern herein, beleuchtet die Buchrücken – vorsichtig berührt der Junge hier einen Band, dort einen …
    »Was suchst du da so lange?«, ertönt die Stimme der spitznasigen, bebrillten Bibliothekarin hinter einem Raumteiler. Er zuckt zusammen. Ihn einer unlauteren Absicht zu verdächtigen ist in etwa so, als würde man einen tiefgläubigen Christen, der gerade ein Gotteshaus betreten hat, für einen Kirchendieb halten.
    »Ich suche mir ein Buch aus …«
    »Mehr als drei pro Person sind nicht erlaubt«, erinnert ihn die Frau. »Du kommst besser ein anderes Mal wieder. Du hast es doch nicht weit.«
    Er nickt, als ob sie ihn sehen könnte. Sicher hat er es nicht weit. Er kommt zweimal im Monat her, im Sommer
noch öfter.

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