Das Marmorne Paradies: METRO 2033-Universum-Roman (German Edition)
Vergnügen bereiten. Ein Kind war eine echte Delikatesse. Es musste ganz aufgegessen und sein Blut getrunken werden.
Trotzdem hatte Denis keine Angst. Erstens hörte er die Gedanken der Wilden, was ihm Selbstvertrauen verlieh, auch wenn er sich weder wehren noch fortlaufen konnte. Zweitens war er überzeugt, dass sein Vater noch lebte, lediglich verletzt war und Onkel Max ihn gesundpflegen würde; danach würden die beiden nach ihm suchen. Und drittens: Er war nicht allein.
Sobald er die Augen schloss, tauchte das ernste Gesicht des netten Mädchens auf, das ihn ruhig und verständnisvoll ansah. In ihren Augen las er Hoffnung. Denis, der ein besonnener Junge war, vertraute Mädchen normalerweise nicht ohne Weiteres, aber dieses hier gab ihm Kraft und half ihm, mit seiner Angst fertigzuwerden.
Ein Teil der Wilden, die Mehrheit, wollte das Kind also essen. Aber es gab auch solche, die der Meinung waren, es wäre vorteilhafter, den Jungen zu verkaufen. Es gab Karawanen – sie wurden offenbar als wilde Karawanen bezeichnet – , die für das Kind einen hohen Preis bezahlen würden. Warum und wofür, das schien den Pygmäen selbst nicht klar zu sein. An diesem Punkt konnte Denis nichts als ein großes Durcheinander in ihren Köpfen ausmachen. Aber einige waren überzeugt, dass der Profit aus dem Verkauf unvergleichlich viel mehr böte als das kurzfristige Vergnügen, diesen mageren Jungen zu verzehren. Eine nahrhafte Suppe ließe sich aus ihm jedenfalls nicht kochen; und ihn zu braten war auch nicht unbedingt vielversprechend: nichts als Haut und Knochen.
Denis spürte seinen Körper nicht mehr und lag bereits halb ohnmächtig da. Nach einer gewissen Zeit erwachte er wieder: Es herrschte Unruhe um ihn herum. Einige Pygmäen standen sich auf einem kleinen Platz in der Mitte der Höhle gegenüber, stampften, schubsten einander, schnaubten entrüstet und schimpften heftig. Der Junge lauschte . In Gedanken stritten sie sich, und dies war nicht ihre erste Auseinandersetzung. Die hungrigen Pygmäen versuchten das Kind den anderen, die es verkaufen wollten, abzunehmen. Und da es mehr Hungrige gab als solche, die verkaufen wollten, drohte das harmlose Gerangel jeden Augenblick in einen bewaffneten Kampf umzuschlagen, umso mehr, als es ausreichend Wurfspieße und Steinschleudern in der Höhle gab.
Denis schloss die Augen: Das Mädchen mit dem ernsten Blick und der Stupsnase war sofort da. An wen erinnerst du
mich nur?, wollte Denis fragen, ich kenne dich … Was soll ich tun?! Hilf mir! Panik stieg in ihm auf. Das Mädchen schüttelte kaum merklich den Kopf.
Plötzlich wurde Denis hoch in die Luft gehoben, aber gleich darauf ließen die Pygmäen ihn wieder fallen – im letzten Moment gelang es dem Jungen noch, den Kopf einzuziehen. Brust und Bauch prallten schmerzhaft auf. Für die kleinwüchsigen Menschenfresser war das Kind kein lebendiger Mensch mehr, sondern ein Stück Fleisch, oder im besten Fall eine Handelsware.
Es blieb Denis nichts anderes übrig, als ergeben auf ihre Entscheidung zu warten. Er hatte begriffen, dass er die Gedanken der Pygmäen zwar hören , sie aber kein bisschen beeinflussen konnte.
»Der Teufel muss mich geritten haben, als ich einwilligte, dass du mitgehst«, nörgelte Max.
Du hast ja gar nicht eingewilligt, dachte Sergej. Ich bin einfach mitgegangen.
Schon weit über eine Stunde arbeiteten sie sich vorsichtig durch diesen furchtbaren, verhexten Wald vor, und noch immer hatten sie keine Ahnung, welche Richtung sie einschlagen mussten. Max war mit einem Gewehr bewaffnet, das zweite hatte er im Kampf verloren. Den Rucksack mit den Patronen trug er bei sich.
Wandern wir nicht im Kreis herum?, fragte sich Sergej schon zum x-ten Mal.
Wenig später erreichten sie den Schauplatz des Kampfes vom Vorabend. Da es in der Nacht nicht geschneit hatte, waren alle Spuren deutlich zu erkennen. Max zeigte Sergej,
wo die erste Amazone niedergestreckt worden war und wo die zweite.
»Schau: Das sind deine Fußabdrücke, als du mit Denis fliehen wolltest. Hier hat dich der Spieß erwischt … Da ist Denis gestürzt, wieder aufgestanden, losgerannt … Und hier ist er dann in die Falle gegangen …«
Max legte den Kopf in den Nacken und blickte nachdenklich zu den Wipfeln einiger großer Fichten hinauf. Wohin hatten sie den Jungen verschleppt? Eine klitzekleine Eingebung würde genügen …
Er drehte sich nach allen Seiten, starrte in den Wald und versuchte in der finsteren Tiefe irgendetwas zu
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