Das Marmorne Paradies: METRO 2033-Universum-Roman (German Edition)
erkennen. Nichts, nicht der geringste Hinweis.
Sergej wandte sich um und schlug zielstrebig eine Richtung ein. Max rannte hinter ihm her, ohne zu begreifen, was vor sich ging.
Es war, als würde Sergej von Denis’ Stimme geführt , die in seinem Kopf erklang. Der Junge war in Panik. Aber die Tatsache, dass sein Sohn lebte, machte Sergej glücklich, verlieh ihm neue Kraft. Der Schmerz in seiner Schulter ließ nach, und seine Seele wurde von einer grimmigen Entschlossenheit erfüllt, ihn zu retten.
Sergej machte einige weitere Schritte, ehe er plötzlich hinter einem Baumstamm in Deckung ging.
Auch Max hatte es gesehen: Mitten im Wald erhob sich ein finsterer, mit schwächlichen Bäumen bewachsener felsiger Berg mit einer Vielzahl von wabenartigen Höhlen.
Ja, dachte Max. Hier also treiben sich diese Teufel rum.
Warum hatten sie keine Wachen aufgestellt? Vermutlich hatten die Wilden gar keine Vorstellung davon, was das
war. Sie lebten von Raubzügen, fielen in großer Zahl über ihr Opfer her, ohne jede Taktik und Kalkül. Woher kamen sie überhaupt? Keiner von ihnen hatte eine Atemschutzmaske getragen, nicht mal eine ganz simple. Wussten sie nichts von der Strahlung? Lebten sie einfach so vor sich hin, bis sie krepierten, ohne sich zu fragen, weshalb? Allerdings war in jener Höhle, in der Sergej und er sich versteckt hatten, die Strahlung praktisch gleich null gewesen, das hatte er genauestens überprüft.
Das ist die Evolution, dachte Max weiter, oder wie man das nennt. Die Evolution hatte einen seltsamen, verqueren Weg eingeschlagen. All das war erst durch die Katastrophe möglich geworden. Die Wolfsratten, die mutierten Riesenhummeln mit ihren giftigen knöchernen Mundwerkzeugen, die Angler … Und wer weiß, wie viele widerliche Ungeheuer es noch in dieser Welt gab, von denen sie nichts wussten. Auch die Menschen hatten angefangen, sich anzupassen. Die einen wohnten in Höhlen, die anderen unter der Erde. Normale Hausfrauen verwandelten sich in Kriegerinnen und lebten in Baumhäusern, die auf ehemaligen Strommasten errichtet waren. In welchem kranken Bewusstsein wäre früher, in den alten Zeiten, je der Gedanke aufgekommen, dass all das hier möglich war … nicht nur möglich, sondern alltäglich, gewöhnlich, normal ?!
Die Welt jenseits der Metro, jenseits der Grenzen ihres marmornen Herzens – der legendären, heiligen Polis –, war riesig; in ihr gab es jedes noch so unvorstellbare Grauen und jede Abartigkeit.
Allein wenn man diese Pygmäen betrachtete: ein Stamm von bösen, aggressiven Waldbewohnern, sehr wahrscheinlich
Kannibalen. Einzeln konnte man sie erledigen, aber alle zu vernichten war vermutlich nur möglich, wenn man sie zusammen mit dem ganzen Wald anzündete. Was für eine erstaunliche Entgleisung der Evolution! Was war da nur im Reagenzglas zusammengemischt worden?
Schnee fiel in großen, dichten Flocken. Das ist gut für uns, dachte Max: Hinter der Schneewand werden sie uns nicht so leicht entdecken. Wir klettern von hinten auf den Berg, abseits der Höhlen. Und dringen von oben ein, dort gibt es bestimmt irgendwelche Durchlässe und Verbindungen.
Seine Hände juckten angenehm vor Ungeduld. Das letzte Mal hatten ihn diese verdammten Winzlinge überrascht. Aber jetzt war er auf Zack. Es war an der Zeit für den Gegenschlag. Die nukleare Vergeltung ist unabwendbar, Jungs.
Im Gegensatz zu Max empfand Sergej Hilflosigkeit, als er das steinerne Ungetüm mit den Höhlen erblickte. Wie sollten sie Denis dort finden, selbst wenn der Junge ihm kleine mentale Impulse schickte: Papa, ich bin am Leben! Ich bin hier! Wo lag dieses Hier?
»Hast du einen Plan?«, fragte Sergej.
Max grinste sein übliches breites Grinsen, das alles Mögliche bedeuten konnte, aber in diesem speziellen Fall wohl hieß: Ob ich einen Plan habe? Ich habe drei Pläne!
Schnee fiel in einer dichten Wand vom Himmel. Man konnte keine zwei Schritte weit sehen. Zwei Männer in Strahlenschutzanzügen bahnten sich vorsichtig einen Weg durch den Wald, steuerten auf den Berg zu, den sie von links umrundeten. Das Wichtigste ist, einen nicht allzu
steilen Aufstiegsweg zu finden, dachte Max. Für Kletterübungen ist dies der falsche Ort und der falsche Zeitpunkt.
Ich bin verloren. Papa schafft es nicht, mich zu retten.
In der Höhle hatten die Pygmäen ein riesiges offenes Feuer entzündet, über dem ein großer, verbeulter Bottich voller Schnee befestigt worden war. Der Hunger, der Wunsch, das zarte Fleisch zu
Weitere Kostenlose Bücher