Das Marmorne Paradies: METRO 2033-Universum-Roman (German Edition)
Litjagin getötet … und dann noch mit einem Pfeil?«
»Michejew glaubt, dass das nichts mit uns zu tun hat.«
»Tatsächlich?«
»Er sagt, dass es hier an der Station bestimmte subversive Kräfte gibt, die versuchen, soziale Spannungen auf der Linie zu schüren, um eine Eskalation, eine Art Panik, herbeizuführen. Die Linie wurde an einer ihrer empfindlichsten Stellen angegriffen – der medizinischen Versorgung. Was glaubst du, was hier los ist, wenn die Menschen ohne ärztliche Betreuung und ohne Medikamente sind? Die Pfeile sind nur ein Ablenkungsmanöver.«
Sergej kam zu dem Schluss, dass diese Erklärung plausibel war.
»Wie willst du Wosnizyn überhaupt suchen?«
»Wir«, erklärte Max hart. »Nicht ich, sondern wir. Du kommst auch mit. Ich weiß, du fühlst dich schlecht. Aber Beine zum Laufen hast du noch. Und wer von uns braucht die Hilfe? Wir gehen in Richtung Ploschtschad Iljitscha , wo das Hauptquartier der Konföderation ist. Von dort machen wir uns auf die Suche. Man wird dir vor der Reise ein stimulierendes Aufbaupräparat spritzen. Ich habe das schon vereinbart. Normalerweise sind die für Auswärtige kostenpflichtig, aber wir haben schon genug bezahlt … Michejew hat entsprechende Anordnungen gegeben.«
»Ich kann nicht …«, sagte Sergej. »Schon wieder irgendwohin. Als wir aus der Kolonie flüchteten, da hatten wir ein Ziel: Wir wollten uns vor den Insekten retten und uns zur Metro durchschlagen, Denis vor dieser verdammten abartigen Welt retten und an einen Ort der Zuflucht bringen … Und ich dachte, dass ich hier die Medizin bekomme, die es mir ermöglicht, noch eine Weile zu leben. Aber jetzt … Jetzt glaube ich nicht mehr daran.«
»Aber was, Freundchen, bleibt dir anderes übrig?«, sagte Max freundschaftlich und schmunzelte gutmütig.
Während Sergej versuchte, zu Kräften zu kommen, und sie auf Denis warteten, brach der Abend an. Offenbar wurde es allmählich zur Regel, dass sie ihre Mahlzeiten ganz allein in der Kantine zu sich nahmen. Nie sahen sie andere Besucher. Sie aßen halbwarme, halbgare Kartoffeln und Fleischklößchen mit schwachem Fleischgeruch. Denis plapperte anfangs begeistert über die Abenteuer, die er zusammen mit Igor auf der Station erlebt hatte, darüber, was für lustige, tolle und spannende Spiele sie gespielt hatten, dass sie bei Tante Ljuda zu Besuch gewesen waren, die sehr nett gewesen sei und ihn über Sergej ausgefragt habe; dass Igors Schwester Dascha schon vierzehn sei, und dass, wie Igor ihm insgeheim anvertraut hatte, zwei ihrer Klassenkameraden in sie verliebt seien … Aber als er bemerkte, dass sein Vater überhaupt nicht reagierte, verstummte er schließlich beleidigt. Wieder aß der Junge wenig – offenbar war er bei Ljudmila schon verköstigt worden. Seine Reste teilten Max und Sergej zwischen sich auf.
Eine idiotische Situation, dachte Sergej gleichgültig. Warum hat sie nach mir gefragt? Am Vorabend hatte Denis doch ganz klar gesehen , dass Ljudmila ihn nicht brauchte! Wozu auf einmal all diese Bemühungen: Warum hatte sie ihren Sohn mit Piroggen geschickt? Denis zu sich geholt? Ihn ausgefragt? Wo war da die Logik? Obgleich, das war nichts Neues: Die Begriffe »Frau« und »Logik« waren nun mal nicht unbedingt miteinander vereinbar. Jedenfalls würden
sie so bald wie möglich aufbrechen müssen. Unterwegs werde ich auf andere Gedanken kommen, dachte er. Und viel Zeit bleibt mir ja wirklich nicht mehr …
Sergej glaubte nicht mehr daran, dass sie Wosnizyn finden würden. Wo sollten sie ihn suchen, wenn es sich um eine Entführung handelte? Ein Ablenkungsmanöver! Da waren Profis am Werk, vermutlich eine ganze Gruppe … Wohin sollten sie sich wenden? Wo suchen? Wen fragen? Im besten Fall würden sie Eduards Leichnam finden. Warum Max ihn mit sich schleppen wollte, war ziemlich klar. Max wollte ihn, Sergej, von seinen morbiden Gedanken abbringen. Ihn sozusagen bis zum letzten Atemzug bei Laune halten. Und was wollte Sergej selbst? War es ihm wirklich egal, ob er an der Station oder auf einem Streckenabschnitt starb? Und wenn Max auf einmal etwas zustieß? Dann wäre Denis ganz allein!
Schon in der Kolonie hatte Sergej von den Händlern, die teilweise direkt von der Polis kamen, jede Menge Legenden und Märchen über die Metro gehört. Über die Schwarzen. Über die Geister verschleppter Kinder, deren gellendes Geschrei Wände zum Einstürzen und Gleise zum Biegen brachte. Über Mamotschka, jene gespenstische Frau mit dem
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