Das Marmorne Paradies: METRO 2033-Universum-Roman (German Edition)
weinenden Kind, das Reisende in den Tunneln um Hilfe anflehte und sie dann ins Verderben führte. Über wandernde Tunnel. Vielleicht hatten die Händler auch manches erfunden, aber Sergej hatte in den zwei Jahrzehnten seines neuen Lebens begriffen, dass die Wirklichkeit oft schrecklicher und verdrehter war als alle Mythen zusammen. Und auch jetzt wusste er eines ganz sicher: Er musste seinen Sohn vor allen Gefahren schützen.
Kommando zurück, sagte ihm eine innere Stimme.
Tu, was du tun musst.
Wenn er hierblieb, würde er still und leise krepieren. Sie würden ihn in irgendein Tuch wickeln, oder ihn zur Freude der Aasfresser nach oben bringen … Aber wenn er sich nochmal aufraffte, würde er unterwegs sterben, wie ein Mann, der bis zum letzten Moment versucht hatte, das Steuer herumzureißen. So sollte es sein. So würde es auch Polina gutheißen.
Komme, was wolle.
Michejew betrat mit energischen Schritten die Kantine und setzte sich zu ihnen an den Tisch. »Wie geht es Ihnen, Sergej Dmitrijewitsch?«
Sergej lächelte nur schweigend.
»Verstehe. Max hat mich über Ihre Pläne informiert. Mir ist zwar nicht klar, wozu das gut sein soll … Aber ich habe nichts dagegen. Sie brechen morgen auf. Marschverpflegung und alle notwendigen Transit-Dokumente für die Wachposten auf der gesamten Linie – einschließlich der Marxistskaja – sind schon vorbereitet. Sie erhalten auch Ihre Waffen zurück – obgleich das für uns eine großer Verlust ist. Max hat Patronen, wir geben Ihnen noch einige dazu. Alles, was Sie übrig behalten, geben Sie nach Ihrer Rückkehr wieder ab. Wollen Sie Ihren Sohn hierlassen?«
Sergej blickte zu Denis hinüber. Warum eigentlich nicht …
Der Junge sah ihn bittend an.
»Wenn du willst, frage ich Tante Ljuda, ob du für kurze Zeit bei ihr wohnen kannst.« Sergej beugte sich zu seinem Sohn und erläuterte ihm mit leiser Stimme den Vorschlag. »Es sind nur drei Tage bis zu unserer Rückkehr. Du kannst
mit Igor spielen. Tante Ljuda kocht gut – denk nur an die Piroggen …«
Denis’ Augen glänzten verdächtig. Der Junge wandte sich ab und schluchzte auf.
Er war auf der ganzen gefährlichen Reise an der Oberfläche bei uns, dachte Sergej. Er hat viel für uns riskiert. Und wir für ihn.
»Er geht mit uns«, sagte Sergej an Michejew gewandt.
»Begleiter kann ich Ihnen keine mitgeben«, sagte Michejew. »Wenn hier plötzlich irgendeine … dumme Situation eintritt, müssen alle meine Männer zur Hand sein. Wenn nur ein Einziger fehlt, spüren wir das schon. Im Falle eines außerordentlichen Vorkommnisses hat jeder hier spezifische Aufgaben.«
»Das klingt, als wollten Sie sich rechtfertigen«, sagte Sergej und lächelte schwach. »Machen Sie sich keine Sorgen – ich verstehe Sie.«
»Ich rechtfertige mich nicht. Ich will nur die Lage erläutern. Alle notwendigen Instruktionen hinsichtlich der Sicherheitsvorkehrungen beim Bereisen der Tunnel erhalten Sie morgen früh beim Dienstältesten der Wache am Tunneleingang zur Perowo . Nach dem Abendessen erwartet man Sie, Sergej, in der medizinischen Abteilung, wo man Ihnen ein Stärkungspräparat spritzen wird. Es ist ein teures Medikament, umso mehr, als Ihre Waffen vorerst nicht als Bezahlung gelten können. Aber immerhin haben wir noch Ihre hochwertigen Strahlenschutzanzüge, die nur leicht beschädigt sind. Du, Max, bekommst in der Waffenkammer das Gewehr und die Pistole. Das war’s, meine Herren. Viel Glück.«
Michejew erhob sich und verließ zügig die Kantine.
»Du und Boris, ihr kennt euch also von früher …«, murmelte Sergej und blickte Max an. »Wo hast du ihn kennengelernt? «
»Das ist eine alte Geschichte …«, sagte der andere vage.
Am Morgen des nächsten Tages machten sie sich bereit für den Abmarsch. Sie schlüpften in Rollkragenpullover und Tarnanzüge, dazu erhielten sie alte, aber feste Armeestiefel. Sogar für Denis fanden sich Kleidungsstücke in der richtigen Größe, denn früher hatte ein kleinwüchsiger Mann an der Station gelebt, über dessen Verbleib jedoch keiner etwas wusste. Außerdem wurden sie mit den versprochenen Waffen, ausreichend Patronen, Proviant und Taschenlampen ausgerüstet.
Nachdem der stämmige, schnurrbärtige Kommandeur am Wachposten sein Unverständnis darüber zum Ausdruck gebracht hatte, dass sie Denis mitnahmen (»Muss das sein? Was soll der Junge da, der geht doch in null Komma nichts drauf«), erläuterte er ihnen ausführlich, wie sie sich in den Tunneln zu verhalten
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