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Das marokkanische Mädchen. Ein Fall für Jacques Ricou

Das marokkanische Mädchen. Ein Fall für Jacques Ricou

Titel: Das marokkanische Mädchen. Ein Fall für Jacques Ricou Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Wickert
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ein Mann mit einem versteckten Hang zur Gefühlsduselei, spielte Piaf, wann immer es sich anbot.
    Jacques setzte sich am Tresen neben Jérôme und nahm einen kleinen Schluck aus dem Champagnerglas.
    Sie nickten einander zu.
    Jacques mochte dieses prickelnde Zeug, wie er es nannte, nicht, und wenn er schlechte Laune hatte, sagte er gern, Champagner werde aus schlechten Weinen zusammengepanscht und dann der Arbeit von Bakterien überlassen, die kleine Luftblasen herstellen und den schlechten Wein einigermaßen genießbar machen. Und das meinte er sogar ernst. Jetzt war er übel gelaunt. Aber um Gaston nicht zu beleidigen, hielt er sich zurück.
    Der Wirt schien schon länger zu feiern. Vergnügt packte er Jacques und Jérôme an den Schultern, zog ihre Köpfe zu sich, bis sie mit seinem zusammenstießen.
    »Nun seid mal nicht so muffig. Sonst stelle ich meinen Bart auf halbmast.«
    Der schwarze Zwirbelbart war Gastons ganzer Stolz. Er sah aus wie eine alte Lenkstange, die zuerst von der Oberlippe aus gerade zu den Seiten strebt und sich dann im rechten Winkel nach vorn dreht.
    Jetzt packte er ganz vorsichtig jeweils mit Daumen und Zeigefinger die beiden äußeren Spitzen seines nach auvergnatischer Tradition gezwirbelten Schnäuzers und drehte sie nach unten.
    »Halbmast!«
    Alle lachten.
    »Na, wen hast du heute verknackt?«, fragte Jérôme.
    »Und wem hast du heute ’ne Giftspritze gegeben?«
    »Owei, ist es so schlimm?« Jérôme schaute Jacques nachdenklich an. »Ärgere dich doch nicht über den Artikel deiner Verflossenen. Weißt du, ich hab es heute auch nicht leicht gehabt. Wie würdest du dich fühlen, wenn du einen Abbruch nicht verhindern kannst, eine Frühgeburt, das Kind kommt zur Welt. Wiegt gerade mal achthundert Gramm. Ja, solch ein kleines leichtes Geschöpf kann heute überleben. Das schafft die Medizin. Aber die Schäden sind doch enorm. Dieses Frühchen hielt gerade mal drei Stunden durch. Kannst du dich in so kurzer Zeit in die Seele der Mutter versetzen oder in die des Vaters? Oder auch die des Arztes? Weißt du, warum ich Arzt geworden bin?«
    Jacques schüttelte den Kopf. Sein aggressiver Ausbruch eben gegen Jérôme war ihm unangenehm. Aber er konnte sich noch nicht dafür entschuldigen.
    »Weil ich Menschen glücklich machen will. Du wirst dich sicher nicht erinnern, aber wir haben uns schon einmal über Glück unterhalten.«
    »Ich erinnere mich gut. Dich macht glücklich, wenn du anderen helfen kannst. Ich habe darüber nachgedacht. Und ich glaube, du hast recht. Voraussetzung von Glück ist, von sich selbst absehen zu können.«
    »Und das habe ich heute nicht geschafft. Ich habe nicht helfen können. Gerade hier in Belleville, wo ich nun schon seit dreißig Jahren als Arzt die kleinen, manchmal sehr armen Leute in ihren kargen Wohnungen besuche, mache ich wahrscheinlich mehr Menschen glücklich, als etwa im schicken 7 . oder im reichen 16 . Arrondissement. Da hätte ich auch meine Praxis aufmachen können und wäre reich geworden. Aber die Leute, die da wohnen, verbringen im Sommer zwei Monate auf ihrem Landsitz und fahren zu Weihnachten und Ostern auch jeweils zwei Wochen weg. Während der ganzen Zeit sitzt du in deiner Praxis, langweilst dich, und es kommt nichts rein. Hier in Belleville bleiben die Leute das ganze Jahr über zu Hause. Und sie brauchen mich.«
    »Tut mir leid, Jérôme.« Jacques bestellte ein Glas Rotwein, sah den Arzt an und zog die Augenbrauen hoch. »Ja. Also zwei Glas Rotwein, bitte.« Er atmete tief durch.
    »Ich will dich nicht mit meiner schlechten Laune belämmern. Die hat nichts mit Margaux’ Artikel zu tun. Es ist viel ärger.«
    »Immer raus damit. Ich habe dir meinen Kram auch erzählt.«
    Jacques zögerte. Er gab ungern preis, was in ihm rumorte.
    »Ich habe heute etwas ungewöhnlich Bedrückendes erlebt. Ein Mann, seine Frau und ein Begleiter sind per Kopfschuss in ihrem Wagen sitzend regelrecht hingerichtet worden. Im Wald von Ville-d’Avray. Okay. Das kommt vor. Aber da war noch etwas anderes. Ich komme sechs Stunden, nachdem sie ermordet worden sind, zum Tatort. Die Polizei untersucht stundenlang den Tatvorgang. Die Leichen hocken immer noch im Wagen, und während ich mit Kommissar Jean Mahon den Wagen ansehe, klettert ein sechsjähriges Mädchen mit ihrem Plüschtierchen in der Hand aus einem Versteck hinter dem Rücksitz. – Die Vorstellung, dass sie mitbekommen hat, wie ihre Eltern erschossen wurden und sie sich dann hinter den Leichen

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