Das marokkanische Mädchen. Ein Fall für Jacques Ricou
versteckt hat, macht mich jetzt noch fertig. Was muss in dem Mädchen vorgehen?«
»Wie hat sie reagiert?«
»Sie hat geschwiegen und sich an dem Plüschtierchen festgehalten. Sie hat nichts gesagt. Nicht geweint. Nichts. Sie hat nur vor sich hin gestiert. Hat etwas Wasser getrunken, aber auf keine Frage geantwortet.«
»Hast du sie befragt?«
»Nein, nein. Eine Polizistin. Und die ist auch ganz sanft mit dem Mädchen umgegangen.«
»Und was habt ihr mit dem Kind gemacht?«
»Die ist jetzt in psychosomatischer Behandlung im Necker.«
»Gut. Die haben da sehr gute Leute. Aber gibt es keine Familienangehörigen, die das Mädchen aufnehmen könnten? Das ist immer noch das beste für ein Kind.«
»Nicht in Paris. Ein Onkel und eine Tante leben in Marrakesch, zwei Tanten in Ouarzazate. Warst du mal in Ouarzazate?«
»Nee. Wo ist das?«
»Hinter dem Atlasgebirge fast in einer Wüstenlandschaft. Aber hier im Necker ist sie in guter medizinischer Betreuung.«
»Und ihr könnt sie vernehmen. Darum geht es euch doch sicher. Aber denk daran. Die Eltern sind tot. Das Kind hat noch ein langes Leben vor sich. Und das sollte nicht mit Traumata belastet sein. Zumindest so wenig wie möglich. Das Wohl des Kindes ist wichtiger als der Wunsch des Richters, Gerechtigkeit auszuüben.«
Jacques schwieg.
Einen Augenblick blickte Jérôme wie abwesend in sein volles Rotweinglas. Er nahm einen Schluck, stützte seinen schweren Körper auf dem Tresen ab und sagte: »Du weißt, ich stamme aus der Gegend von Tours und habe dort Medizin studiert. Und später auch noch im Krankenhaus gearbeitet. Und in dem Krankenhaus hat sich ein Freund auf posttraumatische Behandlung von Kindern spezialisiert. Sexueller Missbrauch von kleinen Mädchen kommt heute noch viel häufiger vor, als du denkst. Nicht nur bei den Bauern, wo die älteste Tochter die Rolle der Mutter übernehmen muss, wenn die Frau früh stirbt, nein, das gibt’s auch in guten Familien der Bourgeoisie. Mein Freund war genial und entwickelte eine besondere Methode, die Kinder über den Schock, der das Trauma auslöst, zum Sprechen zu bringen. Das ist bei der Therapie sehr wichtig. Die geht davon aus, dass ein Kind vertrauensseliger gegenüber einem anderen Kind reagiert. Und da hatte mein Freund eine kluge Idee. Auf seiner Station arbeitete eine sehr kleinwüchsige junge Frau, und wenn der ein Kind begegnete, hatte es fast das Gefühl, ein anderes Kind zu treffen. Ihre Stimme war hell und weich. Und sie war von Natur aus freundlich. Mein Freund bildete sie darin aus, traumatisierte Kinder zum Sprechen zu bringen. Mit phantastischem Erfolg.«
»Ich will dich damit jetzt nicht belasten, aber das klingt interessant. Hast du noch Kontakt zu ihm?«
»Eingeschränkt. Aber ich nehme an, dass ich ihn finden kann.«
»Einen Versuch wäre es wert. Obwohl ich aufpassen muss, mich da nicht zu weit reinzuhängen.«
»Lass das erst einmal eine Sache zwischen uns beiden sein. Bis jetzt ist es ja auch nur eine Idee und mehr nicht.«
Jacques sah auf die Uhr. Es war kurz nach Mitternacht. Er trank sein Glas aus.
Sein Handy klingelte. Der Bildschirm zeigte die Nummer von Jean Mahon.
»Jean? Was ist?«
»Jacques? Sitzt du noch am Tresen?«
Jacques hörte die Ironie in der Stimme des Kommissars.
»Nein, ich liege mit einer kühlen Blonden im Bett!«
»Pass mal auf, da scheint etwas Krummes im Necker zu laufen. Fabienne ist bei dem Mädchen geblieben, weil die beiden sich ein wenig angefreundet haben.«
»Hat sie schon was gesagt?«
»Nichts Wesentliches. Als nun die zusätzliche Wache erschien, ging Fabienne trotzdem nicht nach Hause, weil sie meinte, es sei besser, in der Nähe des Mädchens zu sein. Sie blieb also auf der Station. Dort kommt man nur mit einem besonderen, elektronischen Ausweis rein. Weil aber das Mädchen tief schläft, wollte Fabienne schnell mal in die Kantine des Hauses gehen, um einen Kaffee zu trinken und bat deshalb den Stationsarzt um dessen Karte, damit sie ohne Probleme wieder durch die Schleuse käme. Und jetzt kommt’s: Der Arzt durchsucht seinen Kittel, der auf einem Kleiderständer hängt, und findet seine Karte nicht. Er wird nervös, weil er sie eben noch benutzt hat. Also löst er sofort stillen Alarm aus. In solch einem Fall wird die Schleuse automatisch verriegelt. Das ist so eingerichtet worden für den Fall, dass zum Beispiel ein suizidgefährdeter Patient versuchen sollte, von der Station zu fliehen. Du kommst also nicht mehr rein, nicht mehr
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