Das marokkanische Mädchen. Ein Fall für Jacques Ricou
gesagt. Ich soll dir helfen. Es sei ganz wichtig. Aber was kann eine kleine Krankenschwester aus dem Hôpital Necker schon für den großen Marschall Gao Qiu tun?« Linda lachte.
Sie kannte offensichtlich die Geschichte der Räuber vom Liang-Shan-Moor. Das war Gao Qiu peinlich.
»Was kann ich schon für meinen Namen?«, entschuldigte er sich.
»Ich kann auch für meinen nichts!«
»Haben deine Eltern dich wirklich Linda genannt?«
»Ich heiße Lin mit Nachnamen. Hier ist mein Vater Tellerwäscher, aber in Dongbei war er Lehrer. Er gab mir den Vornamen ›da Yü‹. Er wollte, dass ich heiße wie die unglückliche Lin da Yü aus dem Traum der roten Kammer, sozusagen als Symbol. Aber bei den Franzosen hält jeder Yü für meinen Familiennamen und Linda für den Vornamen. Warum auch nicht. Ist ganz praktisch so.«
»Was für ein Symbol! Lin da Yü. Die Cousine, die ihren Geliebten nicht heiraten kann, sich aus Kummer verzehrt und stirbt! Nein wie schrecklich«, rief Goa Qiu.
»Besser als dein Name!«, lachte Linda. »Der eines Mörders!«
Sie schaute auf die Uhr. »Noch zehn Minuten, dann muss ich zurück.«
»Kurz gefasst: Ich muss wissen, wo die Psychiatrische Abteilung liegt und muss dort heute Nacht noch unauffällig hineinkommen. Außerdem muss ich wissen, in welchem Zimmer das Mädchen Kalila Arfi liegt, das heute Nachmittag eingeliefert worden ist.«
Linda blickte ihn einen Moment schweigend an.
»Hast du was zu schreiben?«
Gao Qiu gab ihr einen Kugelschreiber. Mit wenigen, äußerst präzisen Strichen malte sie die Lage des großen Krankenhauses auf und kreuzte ein Haus an.
»Sie liegt in der dritten Etage. Zimmernummer weiß ich nicht. Aber man kommt nur mit einer Besucherkarte durch die Schleuse.«
»Besorg mir eine.«
Linda dachte nach. Sie schaute vor sich hin und knabberte mit den unteren Zähnen an ihrer Oberlippe.
»Mein Onkel hat gesagt, ich soll dir keine Fragen stellen. Meinetwegen. Ich will sehen, was ich machen kann. Ich habe Nachtdienst und kann gegen elf oder halb zwölf eine Zigarettenpause machen. Ich rauche zwar nicht, aber das macht ja nichts.«
Dann zeichnete sie eine Stelle auf dem Plan ein.
»Hier gegenüber meiner Station ist eine Grünfläche. Dort steht eine Bank. Dahinter wartest du in einem Busch.«
»Wie lange?«
»Bis ich komme.«
Er zahlte. Als sie auf der Straße standen, drehte Linda sich so fröhlich wie zu Beginn ihres Treffens um, zupfte mit zwei langen Fingern an seiner Hemdkante, so als wolle sie ihn an sich ziehen und sagte: »Eine Frage habe ich aber doch: Bist du nicht Kellner im ›Pacifique‹ in Belleville? Ich habe dich doch da bedienen sehen.«
»Wie kommst du darauf?«, fragte Gao Qiu verwundert.
»Ich war da vor zwei Wochen mit einigen Mädchen. Am kommenden Samstag haben die Eltern meiner besten Freundin das ganze Lokal gemietet, um die Hochzeit ihrer Tochter zu feiern. Hast du dann Dienst?«
»Ja, wahrscheinlich. Bei uns feiern viele Hochzeit.«
»Ich freu mich, dich dann zu sehen«, sagte Linda.
»Ja.« Mehr fiel Gao Qiu nicht ein.
Das Mordtrauma
D ie Stimme der Piaf schmachtete den Milord an. Allez venez milord, vous asseoir à ma table. Setzen Sie sich zu mir, Milord, draußen ist es so kalt.
»Mon dieu, Gaston, musst du diese ollen Kamellen spielen? Und kalt ist es auch nicht.«
Jacques kam spät und schlechter Laune ins »Aux Folies«, wo ihm Wirt Gaston sofort ein Glas Champagner in die Hand drückte.
»Georges Moustaki ist heute gestorben. Und ich wollte eigentlich mein Fünfjähriges im ›Aux Folies‹ feiern.«
Der Sänger Georges Moustaki gehörte zu den »Nationalhelden« in Gastons Bistro. Er hatte Lieder für Edith Piaf geschrieben, den Milord etwa, und die Piaf, die in der Rue de Belleville zur Welt gekommen war, so wollte es zumindest die Legende, war hier etwas wie eine »Nationalheilige«. Höher konnte man im Ansehen von Gaston nicht steigen. Aufgewachsen war der »Spatz von Paris«, wie die kleine Piaf später zärtlich genannt wurde, tatsächlich in der Rue de Belleville und hatte als junges Mädchen ihre ersten Auftritte mit einigen Liedern im »Aux Folies« versucht.
Vor fünf Jahren hatte Gaston das alte Bistro übernommen, das schon seit 1850 in den Gazetten von Paris erwähnt wird. Gaston hielt die Traditon hoch und hatte in der Gaststube die vergilbten Plakate der letzten achtzig Jahre hängen lassen. Auch Maurice Chevalier hatte im »Aux Folies« seine ersten Versuche als Chansonier gemacht. Und Gaston,
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