Das marokkanische Mädchen. Ein Fall für Jacques Ricou
Ganz im Gegensatz zu dem nüchternen Atelier wirkte der große Raum mit seiner hellen Holztäfelung wie das Direktionszimmer einer vornehmen Privatbank.
An den Wänden hingen Bilder moderner französischer Maler. Einen Jean-Charles Blais erkannte der Kommissar, aber das auch nur, wie er später dem ihm begleitenden jungen Polizisten gegenüber zugab, weil Blais die Metrostation Assemblée Nationale künstlerisch gestaltet hatte, woran sich Jean Mahon erinnerte.
Ein flacher Sekretär, eine Sitzgruppe mit einem niedrigen Tisch, und eben der lange Konferenztisch.
Antoine Delon rief von seinem Stuhl aus: »Was wollen Sie? Sie stören uns, heute ist kein Geschäftsbetrieb. Haben Sie nicht gehört, Arfi hat sich erschießen lassen.«
Und dann fügte er »ce vieux con« hinzu, »der alte Arsch«.
»Verzeihen Sie, dass wir Sie stören«, sagte Kommissar Jean Mahon, »gerade deshalb sind wir hier.« Er zog aus seiner Jackentasche den Dienstausweis und hielt ihn Delon hin. Der winkte ab.
»Wunderbar, wunderbar, Herr Kommissar. Sie kommen gerade recht. Wissen Sie, was wir hier machen? Wir gehen die Bücher durch. Und was stellen wir fest? Ce vieux con hat mich durch die Bank beschissen. Und es wundert mich auch nicht, dass er sein Fett abgekriegt hat. Der hat ja nicht nur mich beschissen.«
»Dürfen wir uns einen Augenblick zu Ihnen setzen, Monsieur Delon?«, fragte Jean Mahon und wartete die Antwort gar nicht erst ab. Er zog einen Stuhl am Konferenztisch vor, nahm Platz und wies seinen jungen Kollegen mit einer Handbewegung an, es ihm gleichzutun. Antoine Delon wirkte ein wenig irritiert. Doch Jean Mahon fuhr schnell fort: »Was Sie sagen, kann für unsere Untersuchung von großer Bedeutung sein. Wir haben bisher weder Anhaltspunkte dafür, wer hinter dem Mord stehen könnte, noch kennen wir ein Motiv. Sie sagen, er habe Sie betrogen. Seit wann wissen Sie das?«
»Ach, Monsieur le commissaire, da haben Sie bei mir kein Glück. Mein Anwalt und ich sitzen hier seit gestern Nachmittag über den Büchern und haben jetzt erst ein Loch von fünfzigtausend Euro entdeckt. Zu dumm, aber wir fallen leider als Täter aus. Kein Motiv. Denn als wir das Loch entdeckten, da schmorte er schon in der siebten Hölle. Und es würde mich überhaupt nicht wundern, wenn …« und das hob er mit besonderer Betonung hervor »… Monsieur
Ibrahim Rossi
eine Kugel in den Hinterkopf seines Schwagers Mohammed befördert hätte.«
Der junge Polizist, der mitschrieb, blickte verblüfft auf. Dagegen ließ sich Jean Mahon nicht anmerken, ob ihn die Aussage Delons verwunderte.
»Verzeihen Sie die Frage, Monsieur Delon, aber wer ist Ibrahim?«
»Nicht
Ibrahim.
Bloß nicht
Ibrahim
«, rief Delon wieder unkontrolliert laut. »Wehe, Sie nennen ihn
Ibrahim! Monsieur Ibrahim Rossi
legt großen Wert darauf,
Monsieur
genannt zu werden. Auch nicht
Monsieur Ibrahim.
Einen Chauffeur oder Gärtner spricht man mit dem Vornamen
Ibrahim
an, hat er mir erklärt.
Monsieur Ibrahim
sagt man zu seinem Frisör. Er aber ist
Monsieur Rossi!
Und will man ihn von seinem Schwager Mohammed unterscheiden, dann ist er
Monsieur Ibrahim Rossi.
«
»Hatten die Streit miteinander?«
»Ja, und wie!«
»Wissen Sie, worum es ging?«
»Um Geld. Worum sonst? Irgendeine Familiengeschichte. Angeblich. Aber ich weiß nicht, ob das nicht nur so ’ne Chiffre war. Vor zwei Wochen platzte Monsieur Ibrahim Rossi wieder mal rein, als wir mit unserem Modechef über eine neue Jacke für den Herbst diskutieren. Er brüllte Mohammed an: Wenn ich die hunderttausend bis Montag nicht habe, dann lege ich vor deinen Augen deine Tochter um, dann deine Frau, schließlich dich! Und jetzt stellen wir fest, Monsieur le commissaire, dass uns rund fünfzigtausend Euro abhanden gekommen sind.«
»Wie das, Monsieur Delon?«
»Abgehoben. Bar abgehoben. Von Mohammed. Der hat noch nicht einmal versucht, das irgendwie zu kaschieren.«
»Hätte Monsieur Ibrahim Rossi damit kein Motiv mehr?«
»Wieso? Fünfzig ist doch immer noch nicht hunderttausend!«
Jean Mahon dachte an die fünfzigtausend Euro, die von dem Konto eines Aziz Arfi vor wenigen Tagen in Genf abgehoben worden waren. Zusammen wären es hunderttausend.
»Kennen Sie einen Aziz Arfi?«, fragte er.
»Das war der Vater von Mohammed. Ein armer Schlucker. Und der hat angeblich ein Erbe hinterlassen. Was ich mir nun gar nicht vorstellen kann. Ich kenne Mohammed seit Jahren. Es war nie Geld vorhanden.«
»Wie und wann haben Sie Mohammed denn
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