Das marokkanische Mädchen. Ein Fall für Jacques Ricou
schämte sich.
Er wollte mit jemandem über diese Panne, diese enorme Peinlichkeit reden, aber ihm fiel niemand ein, dem er genügend vertraute. Früher hätte er Margaux angerufen. Und sie hätte ihm vielleicht einen ganz brauchbaren Tipp gegeben. Oder Michel Faublée, den Freund und Maler, der ihn nach Belleville gelockt hatte. Aber seitdem der in der Banlieue wohnte, sahen sie sich viel zu selten. Ich muss mich mal wieder melden, dachte er.
Aber wen sollte er sonst anrufen?
Jean Mahon kam nicht infrage. Der hatte das Missgeschick zu verantworten.
Françoise Barda? Die jetzt über dem Brief des Corbeau brütete? Lieber nicht. Dann wäre der Skandal vielleicht bald rum im ganzen Palais de Justice. Ja, es war ein Skandal!
Martine? Ob die seine Laune verstehen würde?
Nein, dazu war der Fall zu ernst.
Als er vor der Metrostation Falguière stand, holte er sein Handy aus der Jacke, um im Büro anzurufen und zu fragen, »ob was war«. Er könnte im Lauf des Gesprächs immer noch überlegen, ob er Martine einweihen sollte.
Zu seiner Verblüffung stellte Jacques fest, dass sein Gerät immer noch ausgeschaltet war. Als der Kommissar ihm das Verschwinden von Kalila beichtete, hatte er offenbar vor Schreck vergessen, auf den Knopf an der oberen Kante zu drücken und seine PIN -Nummer einzugeben.
Jetzt fiel ihm auch wieder ein, dass Jérôme angerufen hatte. Der Arzt hatte in der ihm eigenen Art auf Jacques’ Mailbox gesprochen.
»Hallo Richter. Heute hört ja jeder mit. Also gleich einmal alle Kennworte für die NSA und deren französische Freunde: Inschallah, Osama, Terror, Schwarzgeld, Zypern. Okay. Habt ihr’s, ihr Säcke? Wegen der Amis und Prism will ich nur so viel andeuten: Lass dich nicht ins Bockshorn jagen. Wir werden das Kind schon schaukeln. Denn ich habe meine beiden alten Freunde aus Tours hier in Paris aufgetan. Was sagst du jetzt! Ist das nicht großartig? Es erleichtert alles. Und dich kostet es mindestens eine edle Flasche. Was auch immer. Wir haben auch schon alle notwendigen Maßnahmen ergriffen. Du brauchst nicht zu erschrecken. Nichts ist verloren. Alles ist in Ordnung. Ruf mich nach sieben an. Ich bin jetzt auf der Runde. Also noch mal: lass dich nicht ins Bockshorn jagen. Wie sagt der Cowboy? Ruhig Brauner! Hihi!«
Jacques entspannte sich.
Wenn die Nachricht von Jérôme bedeutete, was er vermutete, dann war Kalilas Verschwinden zu erklären.
Er hörte sich die Nachricht noch einmal an.
Jérôme hat beide alten Freunde gefunden: den Arzt und seine kleine Helferin. In Paris. Sie haben die notwendigen Maßnahmen ergriffen? Nichts ist verloren? Meint er Kalila? Alles ist in Ordnung?
Auf seinem Handy war die vierte Kurzwahltaste mit der Nummer von Jérôme belegt. Man weiß ja nie, wann man mal schnell einen Arzt braucht, so hatte er es Margaux erklärt, die er auf der zweiten und dritten Taste untergebracht und immer noch nicht gelöscht hatte. Zwei – das Handy. Drei – die Büronummer. Unter der eins lag die Mailbox.
Er drückte die Vier. Es läutete fünf Mal, und als Jérômes Mailbox ansprang, unterbrach Jacques die Verbindung.
Der Himmel strahlte in hellem Blau.
Ein weicher Wind blies laue Luft durch die Straßen.
Ich geh jetzt einfach mal zu Fuß. Wird auch nicht mehr als ’ne halbe Stunde dauern.
Jacques schaltete sein Handy aus.
Man muss den Mut haben, sich zu befreien. Er atmete auf, lief die Rue de Vaugirard bis zum Jardin du Luxembourg, wo ihn die Lust überkam, sich auf einen Stuhl vor das Café neben dem Konzertpavillon zu setzen und einen Grand Crème zu trinken.
Als der alte Kellner ihn nach seinen Wünschen fragte, bemerkte Jacques: »Sie sind aber auch schon eine Ewigkeit hier.«
»Ja, Monsieur, bald zwanzig Jahre.«
»Ist das nicht sehr anstrengend?«
»Im Sommer ist es eine tägliche Hatz, im Winter aber äußerst geruhsam. Und in den Zwischenzeiten hängt es vom Wetter ab.«
»Und warum bleiben Sie hier und gehen nicht woanders hin?«
Prompt antwortete der Kellner mit erhobener Stimme, was so klang, als käme die Antwort spontan aus dem Unterbewusstsein:
»Monsieur, der Garten ist das Paradies, wissen Sie!«
Monsieur mahnt den Killer
I m chinesischen Restaurant »Le Pacifique« in der Rue de Belleville waren die Tische abgeräumt und mit frischen Tischdecken und Servietten versehen, die Essensreste vom Boden gefegt, die Spuren einer lärmenden, unhöflichen Reisegruppe aus Shanghai beseitigt.
Der Kellner Gao Qiu hatte ein ordentliches Trinkgeld
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