Das marokkanische Mädchen. Ein Fall für Jacques Ricou
Hast du morgen Abend Zeit zu einem privaten Dîner? Es kommt wahrscheinlich auch die Première Dame Valérie – deine Kollegin!« Der Senator lachte angestrengt.
»Ich würde mich geehrt fühlen, wenn eine der am meisten gerühmten Federn der französischen Presse mir die Ehre gäbe«, sagte Dati, beugte sich über ihre Hand und deutete einen Handkuss an. Formvollendet. Den beiden Männern nickte er zu.
»Lass uns telefonieren, Louis«, sagte Margaux kurz angebunden. »Ich muss jetzt ganz schnell los.«
»Sollen wir dich fahren?«, fragte Kommissar Jean Mahon. »Für dich würde ich sogar das Blaulicht anschalten.«
Margaux lachte. »Mit der Metro geht’s schneller.«
Jean Mahons Polizeiwagen stand vor der Tür. Der junge Polizist, der ihn am Morgen begleitet hatte, ließ den Motor an, als Jacques und der Kommissar einstiegen.
»Wir fahren zum Necker«, sagte der Kommissar zu Jacques, »Kalila ist verschwunden. Das war der Anruf vorhin.«
Der Polizist am Volant schaltete das Blaulicht an.
»Keine Sirene!«, sagte der Kommissar scharf.
Panik im Necker
» D as hättest du mir gleich sagen müssen, Jean! Wir wären sofort aufgebrochen.«
»Jacques, das hätte doch auch nichts geändert. Ich habe gleich meine besten Leute hingeschickt, als ich davon gehört habe.«
»Wie ist das denn passiert?«
»Da gibt’s nicht viel zu erzählen. Kalila wurde am späten Vormittag in ihrem Krankenhausbett zum Chef der Kinderpsychologie gefahren. Sie schlief, weil sie ihr ein Sedativ gegeben hatten. Das Büro des Chefarztes liegt eine Etage tiefer. Fabienne und ein weiterer Polizist haben Kalila begleitet. Als Kalila in ein Beratungszimmer gefahren wurde, bat die Krankenschwester beide Begleiter, vor der Tür zu warten.«
»Warum?«
»Das Mädchen sollte langsam aufwachen. Und dann wollte der Chefarzt versuchen, vorsichtig Kontakt mit Kalila aufzunehmen. Das sollte in großer Ruhe stattfinden. Die Krankenschwester scheint das Kind allein gelassen zu haben. Auf jeden Fall war Kalila eine halbe Stunde später, als der Chefarzt meinte, sie solle jetzt langsam geweckt werden, nicht mehr in ihrem Bett.«
»Aber Fabienne wachte doch vor der Tür.«
Das Beratungszimmer grenzte an eine Reihe weiterer Untersuchungsräume, die untereinander mit Türen verbunden waren. Jacques und der Kommissar schüttelten beide den Kopf, als sie sich den »Tatort« ansahen. Die Tür des letzten Besprechungszimmers führte in einen Flur, der nicht nur um die Ecke, sondern auch neben dem Aufzug und dem Treppenhaus lag.
Fabienne hatte bis dorthin nicht sehen können. Völlig zerknirscht warf sie sich vor, versagt zu haben, weil sie nicht im Untersuchungszimmer neben dem Bett des Mädchens gewacht hatte.
»Sie kannte mich doch inzwischen! Ich wäre für sie keine Fremde gewesen, wenn sie aufgewacht wäre.«
»Ist die Abteilung hier auch gesichert, damit niemand unkontrolliert rein oder raus kann?«, fragte Kommissar Jean Mahon.
»Nein, das ist hier nicht nötig«, sagte die diensthabende Ärztin, die den Kommissar und den Untersuchungsrichter auf Anordnung des Chefarztes begleitete. Jacques hatte als Erstes nach ihm gefragt, aber er war außer Haus.
An allen Ausgängen des Krankenhauses standen Jean Mahons Leute. Auch die unterirdischen Gänge zu den anderen Häusern des Klinikkomplexes waren bewacht. Das Gebäude wurde systematisch von unten nach oben durchkämmt. Kein Zimmer, keine Besenkammer, kein Schrank blieben verschlossen. Und jeder wurde befragt. Ohne Ergebnis. Kalila blieb verschwunden.
»Unfassbar, unfassbar«, sagte Jacques. Er war wütend und schaute an Jean vorbei. »Ich fahre jetzt ins Büro. Ich hoffe sehr, du kannst das aufklären.«
»Wir können dich doch fahren, Jacques. Nimm meinen Wagen.«
»Ich nehme die Metro. Ich glaube, es ist besser, wenn ich jetzt erst einmal einen Moment für mich allein bin.«
Er ging ohne Gruß.
Für den Fehler war allein Kommissar Jean Mahon verantwortlich. Und das schmerzte Jacques, weil er dem erfahrenen Polizisten bisher blind vertraut hatte. Ohne Einschränkung.
Noch auf der Straße schüttelte er den Kopf, ohne es zu bemerken.
Zu viele Gedanken spielten »Nachlaufen« in seinem Kopf.
Marie Gastaud würde ihre Betonfrisur hin- und herwiegen und ihm doch noch die Arbeit über Wein als Nahrungsmittel aufbrummen. Zur Bewährung, so würde sie es ausdrücken.
Margaux hätte einen schönen Aufhänger für einen weiteren hämischen Artikel über den »Lifestyle-Richter«.
Jacques
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