Das marokkanische Mädchen. Ein Fall für Jacques Ricou
Minuten. Zu viel, meinte er selbstkritisch.
Auf der Couch im Vorraum lag die Zivilpolizistin. Er nahm ihre Pistole und steckte sie in den Gürtelbund. Kann man immer mal gebrauchen.
In einem Zimmer mit nur leicht angelehnter Tür schliefen die kleine Frau und der junge Mann auf einer Matratze, die auf dem Boden lag.
Am Ende der Praxis war ein Kinderzimmer eingerichtet.
Gao Qiu schlich zu dem Bett und überlegte nicht lange.
Er nahm das Kopfkissen hoch.
Später, als er kurz vor dem Eingang zu seinem Wohnblock stand, schickte er Monsieur seine letzte Nachricht: Das Zielobjekt ist erledigt.
Die letzte Kurzmeldung
» W ar das bei dir?«, fragte Jean Mahon den neben ihm sitzenden Polizisten, als es piepste.
»Nee, das war dein Telefon«, antwortete der und zeigte auf das Handy, das neben dem Kommissar lag.
»Das ist nicht meins, sondern das von Ronsard. Irre!«, sagte Jean Mahon, »der sitzt in der Zelle, und wir erhalten seine Nachrichten. Von seiner Biene kann es nicht sein. Die sitzt ja auch.«
»Und wer schreibt was?«
Der Kommissar brauchte einen Moment, um das moderne Handy zu bedienen.
»Da steht nur: ›Das Zielobjekt ist erledigt‹. Was immer das bedeutet.«
»Und was war die Meldung davor?«
Jean Mahon versuchte zurückzublättern, was ihm nicht gelang. Der junge Polizist neben ihm nahm das Gerät und las vor: »Das Objekt wird morgen Nacht behandelt.«
»Was immer das bedeuten soll. Überprüft mal, von wem die Nachricht kommt und woher«, sagte der Kommissar und stand auf. Er streckte sich: »Wollen wir nicht aufhören? Morgen ist auch noch ein Tag.«
»Es ist gleich fünf Uhr«, sagte ein Polizist. »Da lohnt es sich nicht mehr, schlafen zu gehen.«
»Gut. Dann machen wir weiter«, sagte Jean Mahon. »Und um halb sieben lade ich alle zum Frühstück ins Bistro ›Le Soleil d’or‹ ein.«
Aus dem Frühstück wurde nichts.
Um halb sechs klingelte das Telefon des Kommissars.
Fabienne rief an und konnte kaum sprechen.
Der Kommissar verstand ihr Gestammel nicht und unterbrach sie: »Fabienne, ich höre Sie kaum. Was ist passiert?« Er hob die Hand und bat damit um Ruhe.
»Kalila atmet nicht mehr.«
Es dauerte einen Moment, bis Jean Mahon bewusst wurde, was die Polizistin gesagt hatte.
»Fabienne. Ist das Mädchen tot?«, rief er in den Apparat.
»Ja.«
»Haben Sie den Arzt geholt? Haben Sie den Notruf gewählt?«
»Beides!«
»Wir sind sofort da!«
Als es klingelte, glaubte Jacques, es sei der Wecker. Die Zeiger standen auf kurz nach sieben. Aber es war nicht der Ton des Weckers. Die Klingel schrillte wieder. Die Haustür! Wer, um Gottes willen, läutete zu dieser unchristlichen Zeit?
»Is’ was?«, fragte Margaux verschlafen, ohne die Augen zu öffnen.
»Mal sehen«, Jacques stand auf.
Sie drehte sich mit einem kleinen Seufzer um.
Er zog eine Hose an und streifte einen Pullover über. Barfuß taperte er zur Wohnungstür und nahm den Hörer zur Gegensprechanlage in die Hand.
»Wer zum Teufel ist da?«
»Jacques, ich bin’s, Jean. Jean Mahon.«
Jacques drückte den Knopf, der die Haustür öffnete. Es war ein schlechtes Zeichen, wenn der Kommissar zu ihm kam. Nahm er den Aufzug oder kam er zu Fuß in die fünfte Etage? Zu Fuß. Tapfer, dachte Jacques. Oder er will Zeit gewinnen.
»Ach«, sagte der Kommissar nur, als er vor Jacques stand. Der alte Polizist schüttelte niedergedrückt den Kopf und nahm seinen Freund in die Arme. »Ach.« Pause zum Atemholen. »Ach, Jacques.«
Für einen Moment schoss es Jacques durch den Kopf, dass Jean Mahon ein persönliches Leid widerfahren war. Hatte ihn seine extravagante Frau verlassen? Er führte Jean Mahon ins Wohnzimmer, setzte ihn in einen Sessel. Kaffee?
»Nein, lass mal, Jacques. Und setz dich.«
Margaux schaute durch die Tür und kauerte sich in die Decke gehüllt auf einen Stuhl.
Wieder stieß Jean Mahon einen langen Seufzer aus, schüttelte den Kopf, stand unruhig auf und ging ans Fenster. Aber er war blind für den Blick über die Dächer von Paris, er sah nicht die beiden riesigen Gemälde an den Wänden gegenüber, weder die Inschrift »il faut se méfier des mots – man muss sich vor den Worten hüten«, noch das haushohe Bild von dem Detektiv mit seiner Lupe.
Jean Mahon schaute ins Nichts.
Zweimal setzte er an, bis er den Satz herausbrachte.
»Das Mädchen ist tot.«
»Oh Gott«, rief Margaux. Sie zitterte und zog die Decke wie eine Schutzhülle um sich. »Oh Gott.«
Zu Jacques’ Erinnerung stieg ein Bild
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