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Das marokkanische Mädchen. Ein Fall für Jacques Ricou

Das marokkanische Mädchen. Ein Fall für Jacques Ricou

Titel: Das marokkanische Mädchen. Ein Fall für Jacques Ricou Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Wickert
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Gerichtsprotokollantin, rief an.
    »Guten Morgen, Martine«, sagte er bewusst fröhlich. Er wollte den Ärger über Margaux und den »Scheißartikel« vergessen. »Was gibt’s?«
    »Guten Morgen, Jacques. Ich wollte dich nur daran erinnern, dass du um zehn einen Termin bei Betonmarie hast.«
    Die Kammerpräsidentin Marie Gastaud, seine Vorgesetzte, nannten sie Betonmarie, weil deren Frisur stets perfekt wie eine Betonskulptur auf ihrem Kopf saß. Es handelte sich freilich um einen unabhängigen Kopf, der Jacques schon das eine oder andere Mal vor politischem Ungemach beschützt hatte.
    »Danke! Wie viel Uhr ist jetzt?«
    »Viertel nach neun. Kommst du mit dem Auto?«
    »Nein, du weißt doch, der Dienstwagen ist, wie meist, im Büro.«
    Er meinte, in der Tiefgarage des Palais de Justice auf der Île de la Cité. In der Rue de Belleville fand man fast nie einen Parkplatz, noch nicht einmal einen verbotenen. Aber Jacques scheute auch vor Strafzetteln nicht zurück. Er gab sie ungerührt weiter an Jean Mahon, den Kommissar der Police judiciaire, mit dem er zusammenarbeitete. Über seine Kontakte in der Präfektur sorgte Jean Mahon dann dafür, dass Strafzettel des Untersuchungsrichters Jacques Ricou vernichtet wurden.
    Gaston brachte die große Schale Kaffee und das zweite Croissant. Jacques blätterte in den Zeitungen, schaute kurz auf die Uhr. Es würde knapp werden. Aber es gab auch keinen kein Grund zur Eile.

Arzneimittel Wein
    » U nd schauen Sie sich diese schöne Anzeige vom Beginn des letzten Jahrhunderts an«, sagte Marie Gastaud und blätterte in dem Bildband eine neue Seite auf. Sie kicherte, was Jacques noch nie von ihr gehört hatte. Ein fast mädchenhaftes Gekiekse. Er lachte nur gequält.
    Über der gemalten Anzeige stand »Bier ist nahrhaft«, und auf der linken Seite war eine glückliche Amme zu sehen, die ein Glas Bier trank und ein strahlendes Kind an ihrer vollen Brust nährte. Auf der rechten Seite sah man eine griesgrämige Amme, die kein Bier trank, weshalb an ihrem flachen Busen ein hungriges Kind missmutig nuckeln musste.
    »Weil es bei dieser Sache aber um Wein geht, hat Monsieur Suguenot hier ein rotes Merkzettelchen eingelegt«, Marie Gastaud klappte das Buch an der Stelle auf, »ich vermute, er meint es ironisch. Denn so weit würde heute selbst ein Commandeur des Chevaliers du Tastevin, Abgeordneter und Bürgermeister von Beaune nicht gehen. Nämlich zu behaupten, Wein sei ein Arzneimittel.«
    Marie Gastaud hatte sich wie immer mit dem Rücken zum Fenster an den Konferenztisch gesetzt. Von ihrer Mutter hatte sie gelernt, dass eine Frau ab einem gewissen Alter dann jünger wirkt. Falten fallen im Gegenlicht weniger auf.
    Sie schob das Buch näher zu Jacques und las vor: »Gegen Allergien hilft ein Glas Médoc pro Tag, gegen Arteriosklerose sollten es schon vier Glas Graves ein. Bronchitis heilt man mit drei Tassen Burgunder oder Bordeaux. Tassen wohlgemerkt, gewürzt mit Zucker und Zimt.«
    Gegen Fieber wurde eine Flasche trockener Champagner täglich empfohlen, gegen extreme Dickleibigkeit eine Flasche Rosé aus der Provence. Auch täglich.
    »Ich ahne, dass ich Ihnen eine Last aufbürde, wenn ich Sie jetzt um einen Gefallen bitte«, sagte Marie Gastaud. »Aber ich nehme an, es wird auch in der Politik positiv vermerkt werden, wenn Sie das Gutachten schreiben. Es muss ja nicht lang sein.«
    Jacques dachte verzweifelt nach, wie er sich aus der Zwickmühle befreien könnte. Er könnte sich einfach weigern, denn Untersuchungsrichter sind völlig unabhängig, und keiner kann ihnen Weisungen erteilen. Nicht einmal der Staatspräsident. Der Untersuchungsrichter kann verhaften, wen er will, er kann durchsuchen lassen, was er will. Er ist wie ein kleiner Tyrann im Dienste der Justiz. Aber sich dieser Banalität zu verweigern wäre auch nicht klug.
    Marie Gastaud hatte ihm erklärt, worum es ging.
    Seit die Europäische Kommission verboten hatte, für Alkohol Werbung zu machen, war der Verbrauch von französischem Wein jährlich um einige Prozent gesunken.
    Jetzt hatte die spanische Regierung gesetzlich festgelegt, dass Wein ein Nahrungsmittel ist. Und für Nahrungsmittel darf man werben.
    Deshalb drängte Alain Suguenot, Bürgermeister von Beaune, Zentrum des Burgunderweins, als Abgeordneter in der französischen Nationalversammlung auch auf ein solches Gesetz.
    »Ich will ganz ehrlich sein«, sagte die Kammerpräsidentin, »Suguenot ist ein guter Freund meines Mannes. Sie waren im selben Jahrgang

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