Das Mars-Labyrinth: Roman (German Edition)
Seine Brutpfleger hat’s bei einem Grubeneinsturz dahingerafft. Danach hat er im Waisenarbeitsprogramm festgesessen, bis sie ihn dienstverpflichtet haben. Habe ich euch erzählt, wie wir für die Schlacht von Noachis Terra ausgezeichnet wurden? Das ist schon eine tolle Geschichte, wenn ich das mal so sagen darf.«
Und er sagt es. Erzählt die ganze Geschichte. Plappert minutenlang weitschweifig daher. Als er endlich mal Atem holt, fühlen meine Ohren sich schon versengt an, und Vienne sieht aus, als wollte sie sich mit bloßen Fingern durch die Bordwand des Waggons graben.
»Vienne«, stöhne ich, »ich nehme es zurück. Du kannst ihn erschießen.«
»Wie oft?«, fragt sie.
Fuse wirft mit trotziger Geste beide Hände in die Luft. »Schon gut, ich hab verstanden! Was seid ihr zwei doch für Stimmungskanonen.« Er sinkt zurück in seinen Sitz. »He, Jenks, hast du irgendwas Nettes in deinem Futtersack?«
Vienne und ich wechseln einen Blick. Sie macht den Mund auf, aber ich lege ihr einen Finger an die Lippen, um sie am Sprechen zu hindern. Für ein paar Sekunden ist es, als wäre die Zeit stehen geblieben. Ich atme aus, und Vienne blinzelt. Dann weicht sie zurück. Langsam nimmt sie meine Hand in ihre und drückt sie herab. Kaum wahrnehmbar schüttelt sie den Kopf, und ich bin nicht sicher, wem von uns ihr wortloses Nein gilt. Ich atme tief durch, und mein Bewusstsein kreiselt durch einen Wust aus Emotionen, als Vienne eine Faust ballt und sich zum Fenster umdreht.
Verdammt.
»Mimi.« Ich reibe die Finger aneinander, während ich an die Berührung ihrer Lippen denke. »Behalte die Dinge im Auge.«
»In welchem Auge?«, fragt sie. »In deinem realen oder im synthetisch-bionischen?«
»Das war nur eine Redensart.«
»Ich war nur ironisch.«
»Oder sarkastisch.«
Ganz langsam, beinahe so, als würde sich der Bahnsteig bewegen und nicht der Zug, zieht die Station am Fenster vorbei. Einen Augenblick später trompetet ein Drucklufthorn, während die Lokomotive sich ihren Weg über das Schienenband bahnt und beschleunigt. Die Stadt fällt hinter uns zurück, wird kleiner und kleiner, als TransPort New Eden hinter sich lässt. Bald scheint die Biokuppel der Siedlung weit entfernt zu sein, unwirklich, nur noch ein schrumpfender Punkt in der Marslandschaft. Der Blick aus dem Fenster wird zu einem Strom aus Farben und Geräuschen. Nur der ferne Gipfel des Olympus Mons ist noch klar zu erkennen. Der Horizont jedoch ist fort – nicht nur verschwommen, nein, einfach weg – und die mir bekannte Welt wird flach, rot und staubig.
Ich schließe die Augen, und rasch stellt sich der Traum ein: Ich bin wieder im Krankenhaus, in der Station für rekonstruktive Chirurgie. Vater steht an meinem Bett.
»Das ist die dritte Abstoßung«, sagt der Chirurg. »Seine Hirnwellen passen einfach nicht zu den Spendern auf unserer Liste. Das Experiment ist leider ein Fehlschlag.«
Ein gesichtsloser Bürokrat in dem typischen lavendelfarbenen Anzug von CorpCom meint: »Vielleicht ist sein Geist zu schwach, um eine künstliche Intelligenz aufzunehmen.«
Vater ist anderer Meinung. »Eher zu stark. Die DNS meines Sohnes ist von höchster Qualität. Seine Surrogatmutter wurde unter Hunderttausenden von Frauen ausgewählt, alle stark, intelligent und tapfer. Nein – was hier minderwertig ist, können nur die Spender sein.«
»Oder inkompatibel«, sagt der Chirurg. »Wir können es weiter versuchen.«
»Nein.« Vater tätschelt meine Hand mit jener Zuneigung, wie man sie einem Klumpen Fleisch zuteilwerden lässt. »Ich kann bei Operation MUSE kein Risiko eingehen. Sie werden passendere Probanden auftreiben müssen.«
Benebelt von der Sedierung taste ich nach seinem Arm und finde ihn irgendwie. »Mimi«, sage ich schleppend, und meine Stimme klingt weit entfernt. »Nehmt Mimi.«
»Wer ist Mimi?«, fragt Vater.
»Sein ehemaliger Chief«, sagt der Anzugträger. »Sie ist in Tunnel 2-E im Kampf gefallen.«
»Tun Sie es«, sagt Vater zu dem Chirurgen.
»Aber, Sir«, protestiert der Anzugträger. »Wir haben schon jetzt gegen Ethikvorschriften und Gesetze verstoßen ...«
»Zum Teufel mit Ihrer Ethik!«, blafft Vater ihn an. »Und scheiß auf das Gesetz. Das hat uns bei unserem letzten Projekt nicht aufgehalten, und es wird uns auch diesmal nicht aufhalten. Mein Sohn ist für Großes bestimmt. Dieses Experiment wird ihm helfen, dieses Ziel zu erreichen.« Wieder tätschelt er mechanisch meine Hand. »Doktor, Sie dürfen fortfahren. Und
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