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Das Matrazenhaus

Das Matrazenhaus

Titel: Das Matrazenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paulus Hochgatterer
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gesagt, sie ist dreieinhalb. Angeblich kommt sie aus derselben Stadt wie ich. Ich habe gefragt, wie sie heißt, und sie haben gesagt: Susi. Ich habe es ausprobiert, aber sie hört noch nicht auf diesen Namen. Sie haben gesagt, es ist wie bei einer kleinen Katze: Sie muss sich erst daran gewöhnen. Ich habe in unserer Sprache gesagt: »Ich heiße Fanni.« Sie hat die Augen geschlossen und ein einziges Wort geantwortet: »Switi.« Sie ist dünn, winzig und hat struppiges Haar. Sie macht überhaupt ständig die Augen zu. Damit wird sie aufhören müssen. Das Einzige, was wirklich zählt, ist, die Augen offen zu halten. Ich habe das auch erst mit der Zeit begriffen.
    Es regnet. Das scheint ihr zu gefallen. Sie steht auf der Treppe vor dem Haus, hält das Gesicht nach oben und lacht. Das Wasser rinnt ihr von den Ohrläppchen den Hals hinab, in zwei kleinen Bächen. »Ich zeige dir alles«, sage ich. Sie nimmt meine Hand.
    Wir gehen die Fürstenaustraße entlang in Richtung See, vorbei an den großen Häusern in den abfallenden Gärten mit den dunklen Glashalbkugeln oberhalb der Klingelknöpfe. Das sind Kameras. »Hier wohnen reiche Menschen«, sage ich. Ich weiß nicht, ob meine Schwester weiß, was reich ist. »Wir sind reich«, sage ich. Wir haben am Gartentor auch eine Glashalbkugel oberhalb des Klingelknopfes. Links zweigt der Fußweg in die Klamm ab. Auf einem Schild steht: Begehen auf eigene Gefahr . Darunter sind ein Baby in einem Kinderwagen, ein Mann in einem Rollstuhl und eine alte Frau mit einem Stock gezeichnet. Alle drei sind rot durchgestrichen. Das hat mir von Anfang an gefallen.
    Switi tappt in alle Pfützen. Je höher es spritzt, umso lauter lacht sie. Es ist Sommer, daher macht das nichts. Wir gehen die lange Kurve entlang bis zur ersten Aussichtsplattform. Schräg vor uns liegt der blaugrüne Tümpel, aus dem der Bach in einem Schwall hinunterfällt, direkt in den See, könnte man meinen. Man hört das Rauschen. Um den Wasserfall zu sehen, müsste man noch weiter gehen. Das werde ich mir für ein anderes Mal aufheben. Ich deute zur Kammwand hinauf. »Hier ist es so«, sage ich, »oben sind die Berge und unten ist der See. Zu Hause ist es anders: Oben ist der Regen und unten ist der Schlamm.« Sie schaut mich groß an, beinahe, als hätte sie mich verstanden. »Eins ist gleich«, sage ich noch, »rundherum ist die Stadt. Hier ist sie kleiner; aber das merkt man nur manchmal.« Dann kehren wir um.
    Oben auf der Kuppe, wo links der Felsen steht, der aussieht wie eine Eule, bleibe ich stehen. Wenn man Glück hat, kann man an dieser Stelle einen Zug durch den Berg fahren hören. Ich horche. Es fährt gerade keiner. Vor den Hotels sind die Sonnenschirme aufgespannt, weiß, hellgrün und orange. Ich lese ihr vor, wie die Hotels heißen: Wertzer, Fernkorn und Abendroth. »Mit teha«, sage ich, »aber das verstehst du erst, wenn du lesen kannst.« Die Zwergziegen im Gehege neben dem Fernkorn drängen sich an den Zaun, als wir vorübergehen. Sie scheint sie gar nicht zu bemerken. Sie blickt ständig auf den See hinaus.
    Am Jachthafenbuffet frage ich sie, ob sie ein Eis möchte. Es dauert einige Zeit, bis sie mich versteht. Sie nickt und macht die Augen zu. Ich nehme Erdbeere und Schokolade, zwei Tüten. »Hast du Besuch?«, fragt Gino. »Nein«, sage ich, »es ist meine Schwester.« »Sie war noch nie da«, sagt er, »wie heißt sie?« »Switi«, sage ich. »Switi«, sagt Gino, »das passt zum Eis.« Ich frage nicht nach, warum Switi zum Eis passt. Gino kommt aus Reggio di Calabria und behauptet, sein Vater ist ein Mafiaboss, der halb Italien unter seiner Kontrolle hat. Ich glaube ihm kein Wort. Ich bin nicht einmal sicher, ob er wirklich aus Italien stammt. Das Eis schmeckt gut, darauf kommt es an.
    Wir gehen auf dem Landungssteg bis nach vorn zu den Betonpfeilern mit den Eisenringen. Links von uns schwimmen Enten, drei große und fünf kleine. Eine von den großen hat ihren Fuß auf den Rücken gelegt; das sieht komisch aus. Switi deutet auf die Enten und macht schnarrende Geräusche. Vor uns fahren zwei Boote hin und her, eins mit einer Reihe blauer Punkte auf dem Segel, eins mit einem orangefarbenen Streifen. Sie werden mich suchen, denke ich, sie werden an die Türen der Nachbarn klopfen und sie werden herumtelefonieren. In ihren Gesichtern wird dabei eine Mischung aus Angst und Wut sein.
    Auf dem Rückweg erzähle ich ihr die Geschichte von der Tochter eines Maharadschas, die aus dem Palast ihrer

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