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Das Matrazenhaus

Das Matrazenhaus

Titel: Das Matrazenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paulus Hochgatterer
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Eltern wegläuft, weil sie sich eingesperrt fühlt. Sie findet hundert Freunde, die sie vor ihrem grausamen Vater und ihrer verrückten Mutter beschützen. Wenn die Soldaten des Vaters ganz nahe sind, versteckt sie sich im Kehlsack eines Pelikans. Dort riecht es zwar fürchterlich nach Fisch, aber keiner entdeckt sie. Wenn der Pelikan hochsteigt und eine Runde fliegt, öffnet er den Schnabel ein wenig, und sie kann durch den Spalt auf die Stadt hinabschauen, auf die Häuser, auf den Strand, auf das Kraftwerk mit seinen Schloten und auf den Palast, in den sie nie mehr zurückkehren wird. Switi blickt mich immer wieder an. Ich bin sicher, sie versteht jedes Wort, obwohl ich in unserer Sprache nicht mehr so geübt bin. Dass ihr Schokoladeeis schmilzt und aufs T-Shirt tropft, ist uns beiden egal.
    Im Vorbeigehen zeige ich ihr das Schild der Apotheke. Zwei Dromedare sind drauf zu sehen, ein großes und ein kleines. Ich habe keine Ahnung, warum eine Apotheke in Furth am See ausgerechnet Dromedarenapotheke heißt, aber manchmal verirren sich Dinge in eine Gegend, wo sie nicht hingehören. Dromedare haben einen Höcker, normale Kamele haben zwei – das hat mir diese Apotheke beigebracht. Es gibt in Furth auch noch die Apotheke in der Bahnhofsstraße, aber die heißt einfach Bahnhofsapotheke und ist kein bisschen lehrreich. Als plötzlich die Eingangstür aufgeht und jemand heraustritt, erschrecke ich. Es ist Frau Wirth, die Kindergartenleiterin, zu der alle, die sie einmal gehabt haben, Tante Lea sagen. Ich habe sie nie gehabt. Sie kennt mich trotzdem. »Ja, wen haben wir denn da?«, fragt sie. Im Fernsehen fragen so Leute, die Kinder verschleppen. »Meine Schwester«, sage ich. »Ich wusste nicht, dass du eine Schwester hast«, sagt sie, »wie heißt sie?« »Susi«, sage ich. »Hallo, Susi«, sagt sie, »schön, dass es noch Leute gibt, die ihre Tochter Susi nennen.« Sie fragt, ob Susi in den Kindergarten kommen wird, und ich sage, ich glaube, schon.
    Ich überlege, welche Art von Medizin Frau Wirth aus der Apotheke geholt haben könnte, einen Asthmaspray, Nerventabletten oder eine Salbe gegen Krampfadern. Als wir beim Bezirksgericht um die Ecke biegen, frage ich Switi, ob sie nicht auch findet, dass Tante Lea eine Frisur hat wie ein Fahrradhelm – irgendwie an den Kopf gepappt und eigentlich möchte man draufhauen.
    Am Ende der Stiftsmauer reckt sie mir ihre Arme entgegen. Ich nehme sie hoch und trage sie ein Stück. Sehr weit schaffe ich es nicht; sie ist trotzdem zufrieden. Wir überqueren die Bahn und steigen den Hügel in Richtung Walzwerksiedlung hinauf. Ich erzähle ihr davon, wie mir Ümid die Wasserpfeife seines Bruders gezeigt hat und wie er behauptet hat, er habe sie auch schon einmal benützt, was natürlich komplett gelogen ist, und wie er gesagt hat, sein Bruder bringt ihn um, wenn er ihm draufkommt, und er muss mich leider auch umbringen, wenn ich auch nur ein Wort verrate. Ich kenne Ümids Bruder nicht einmal.
    Knapp bevor in der Fürstenaustraße der Blick auf unser Haus frei wird, biegen wir nach links ab. »Ab jetzt ist es geheim«, sage ich, »Fluchtweg Nummer eins.« Ich habe eine Art Vogel mit meinen Fluchtwegen; überall brauche ich einen, zu Hause, in der Schule, sogar, wenn wir im Schwimmbad sind. Also: zuerst die Sackgasse, vorbei an der Blumenhandlung und an diesen Häusern, die alle vier vollkommen gleich ausschauen, bis an die gelb gestrichene Halle mit den rostigen Schiebetoren, den klein gefelderten Fenstern und dem Eingang, den keiner kennt außer mir. Rechts die Halle entlang bis an ihr Ende und dann nicht um die Ecke, sondern durch eine Lücke in den Holundersträuchern auf einen Pfad, der erst die untere Kante einer Böschung entlangführt, dann auf einem Brett über einen kleinen Bach und schließlich schräg ansteigend an die Hinterseite der Gärten. Jener von den Kubiks, dem Augenarzt und seiner Frau, der vom alten Findenegg mit seinen karierten Hemden und am Ende der, auf den es ankommt. Ich bleibe stehen, lege den Finger auf die Lippen und lausche. Nichts. Bei Schlechtwetter gehen sie selten in den Garten. Außerdem verstellt vom Haus her sowieso der Schuppen die Sicht. Ich ducke mich trotzdem. Im vierten Feld des Zaunes lässt sich das Rautengitter seitlich aushängen und so weit aufbiegen, dass jemand wie ich leicht durchschlüpfen kann, Switi erst recht.
    Unter einem der Zwetschkenbäume sitzt ein Vogel in der Wiese, wie ich ihn noch nie gesehen habe, groß, hellbraun,

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