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Das Matrazenhaus

Das Matrazenhaus

Titel: Das Matrazenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paulus Hochgatterer
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akustischen Halluzinationen abzuwehren. Vor zwei Jahren hatte Bauer jedenfalls bei der Aufklärung des Mordes an einem alten Mann entscheidend mitgewirkt. Damals hatte er auf Kovacs gar keinen verrückten Eindruck gemacht, ganz im Gegenteil. Lediglich beim Begräbnis des Opfers war er ein wenig seltsam gewesen.
    Kovacs ging quer über den dreieckigen Rathausplatz und durch die kurze Kastanienallee, die von ihm wegführte. Danach bog er in Richtung See ab. Vor dem Supermarkt wurden Kartons mit Kirschtomaten und Salatköpfen entladen. In der Piccola Cucina hatte es am Vortag Branzino auf Rosmarinkartoffeln und Ravioli mit Lammfleischfülle gegeben; das war an der Tafel neben dem Eingang zu lesen. Hunger. Er überlegte, ob er dran war, Frühstück mitzubringen. Nein, war er nicht.
     
    Es roch nach Kaffee, als er die Tür zum Kommissariat aufschloss. »Willst du auch einen?« Die Stimme von Eleonore Bitterle. »Ja, bitte.« Er betrat sein Büro, schlüpfte aus der Jacke und nahm seinen Notizblock vom Schreibtisch. Immer gleich, dachte er, jeden Tag, wie ein zwanghafter alter Mann. Er setzte sich halb aufs Fensterbrett und begann nachzudenken. Die Zeit vor der Morgenbesprechung nützte er in der Regel, um sich zu ordnen und zu entscheiden, was wichtig war und was nicht. In den Neubauten von Furth Nord waren zwei Wohnungen aufgebrochen und ausgeräumt worden, mitten am Vormittag. Das Übliche war verschwunden: Schmuck, Uhren, ein Laptop, ein wenig Bargeld; als einziges Ungewöhnliches eine Sammlung von Modellautos aus den Fünfzigerjahren. Die Einbrecher hatten die Türen geöffnet, ohne einen Kratzer zu hinterlassen. Auf dem Bahnhof hatte ein Mann zum zweiten Mal Schülerinnen gefragt, ob sie nackt fotografiert werden wollten. Es dauere eine halbe Stunde und er zahle fünfzig Euro. Die Mädchen waren ruhig geblieben, hatten zu ihren Handys gegriffen, und der Mann war davongelaufen. Eher klein, dicklich, mittleres Alter und eine grün gerahmte Brille – die Mädchen hatten eine genaue Beschreibung geliefert. Schließlich die Sache mit Florian Weghaupt. Der junge Maurergeselle war bei Fassadenisolierungsarbeiten am Bürogebäude der Neptun-Versicherung aus einer Höhe von sechzehn Metern vom Baugerüst gestürzt, auf der Gehsteigkante aufgeschlagen und sofort tot gewesen. Eine Passantin hatte ausgesagt, er sei mit weit von sich gestreckten Armen über die Brüstung gekippt und habe dabei noch etwas gerufen; sie sei ganz sicher, dass sich vor dem Fall eine zweite Person unmittelbar bei ihm befunden habe. Das widersprach dem Bericht der beiden Arbeitskollegen Weghaupts, wonach die drei Männer auf unterschiedlichen Ebenen des Gerüstes mit Bandagierungs- und Verspachtelungsarbeiten beschäftigt gewesen seien; jeder habe seine eigene Etage zugeteilt gehabt; keiner habe sich in der Nähe des anderen befunden.
    »Bitte sehr.« Eleonore Bitterle stellte ihm den Kaffee hin, schwarz mit einer Löffelspitze Zucker, »und lies heute ausnahmsweise deine E-Mails.« Kovacs blickte von seinem Notizblock auf. »Wie weit ist George mit der Weghaupt-Sache?«, fragte er. »Keine Ahnung«, sagte sie, »George ist gestern Abend nach Berlin abgeflogen; das solltest du eigentlich wissen.« Stimmt, sollte ich, dachte Kovacs, ich werde wirklich dement. George Demski war seit knapp einem Jahr Mitglied einer internationalen Arbeitsgruppe zur Bekämpfung der Kinderpornographie. Man hatte ihn aufgrund einer Metaanalyse kriminalpsychologischer Arbeiten zum Thema Biographien missbrauchender Täter dorthin berufen. Der Artikel, den er in einer soziologischen Fachzeitschrift publiziert hatte, war Nebenprodukt des Fernstudiums, das Demski seit Jahren an einer belgischen Universität absolvierte. Wenn man ihn fragte, was er da eigentlich studiere, sagte er: »Alles«, und sobald man nachbohrte, wurde er unmutig. Demski war engagiert und fachlich brillant – das war die eine Seite; seine Alltagsarbeit blieb in letzter Zeit zunehmend liegen, das war die andere. »Ich werde ihn anrufen«, sagte Kovacs. »Viel Spaß«, antwortete Bitterle. Sie stand mit verschränkten Armen in der Tür, lang und hager, das graue Haar zu einem Knoten hochgesteckt. Sie litt am meisten unter Demskis Abwesenheit. Er war ihr Partner gewesen, ihr Alter Ego, vor allem in der Zeit, in der sie sich nach dem Tod ihres Mannes weitgehend aus dem Kontakt zu anderen Menschen zurückgezogen hatte. Maigret und Mrs. Brain , hatte man die beiden genannt, ihn nach seiner französischen

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