Das Matrazenhaus
er, »achtjähriger Sohn chinesischer Eltern, geboren in Furth. Mutter Pflegehelferin, Vater Metallarbeiter. Jemand hat ihm das Schlüsselbein gebrochen.«
Elf
Die Sache mit der Osteogenesis imperfecta sei eine Zufallskoinzidenz und daher am besten gleich wieder zu vergessen, sagte Eleonore Bitterle. Keiner könne feststellen, ob das Schlüsselbein des Buben nicht auch so entzweigegangen wäre. Schlüsselbeine seien nun einmal nicht die Riesen im menschlichen Skelett. »Ich will das trotzdem verstehen!« Ludwig Kovacs war gereizt. Ständig habe man sich mit diesem Kinderkram herumzuschlagen, diffuses Zeug und medial aufgeblasen, und jetzt, wo etwas Substantielles vorhanden sei – Osteo irgendwas, Glasknochenkrankheit halt –, solle er es vergessen; er denke nicht daran.
»Gut, wenn es gewünscht wird.« Eleonore Bitterle stellte sich ans Whiteboard. An ihr war eine Lehrerin verlorengegangen, das lag auf der Hand. Wenn sie in einem ihrer Rollkragenpullis dastand, die Welt erklärte und in Graphiken und Diagramme fasste, war sie von einem hellen Leuchten umgeben. Sie erzählte von der genetisch bedingten Stoffwechselstörung, die der Glasknochenkrankheit zugrunde liege, davon, dass es da nichts zu heilen gebe, und von den verschiedenen Ausprägungen. Als Extreme existierten der Typ zwei, der mit einer Lebensfähigkeit über das erste Jahr hinaus nicht vereinbar sei, und der Typ eins, die harmloseste Variante, auf die man in der Regel zufällig stoße, zum Beispiel wenn ein Kind sich in einem relativ kurzen Zeitraum mehrere Knochen breche. Bei Sen Wu seien es innerhalb zweier Jahre der rechte Oberarm, das rechte Schienbein und die linke Speiche gewesen, daher habe man die Angelegenheit medizinisch genauer unter die Lupe genommen. Vorher habe man allerdings den Vater verdächtigt, auf die autoritären Erziehungsmethoden der Asiaten verwiesen und an Norbert Schmidinger erinnert, der seinerzeit seine fünfjährige Tochter gegen eine Wäschestange geschmettert und ihr beide Unterschenkel gebrochen hatte. »Schmidinger sitzt doch noch, oder?«, fragte Kovacs. Sabine Wieck nickte heftig.
Sie war damals schluchzend in der Besprechung gestanden, voller Ohnmacht und Wut, das sah er noch vor sich. Unmittelbar zuvor hatte sie im Krankenhaus versucht, das Mädchen zu befragen, und war auf eine Mauer aus Angst und Abwehr gestoßen. Kovacs war aus der Koordinationssitzung gestürmt, ins Auto gesprungen und geradewegs zu Erdoyan gefahren. Je mehr einem die Leute schuldeten, umso größer war der Handlungsspielraum, den man als Polizist besaß. Der Sheriff hatte sofort begriffen und lediglich gefragt, ob er in der Wahl der Methode frei sei. Schmidinger hatte einige Wochen später bei der Hauptverhandlung ein Geständnis abgelegt, glatt und ohne Gestotter; auch auf seine Lieblingsnummer mit der psychischen Krankheit hatte er verzichtet. Im Gerichtssaal waren Kovacs zwei türkisch aussehende Männer aufgefallen; einer von ihnen, mit grauem Schnurrbart, war glatzköpfig gewesen, der andere, jüngere, hatte eins dieser Keramikaugen um den Hals hängen gehabt. Schmidinger hatte sich mehrmals nach den beiden umgedreht. Kovacs selbst hatte sie nicht gekannt. Er hatte mit dem Sheriff später kein Wort über die Sache gesprochen.
»Bei voller Ausschöpfung sitzt er noch zweieinhalb Jahre«, sagte Sabine Wieck, »wir haben ihn schon gestrichen.« »Gestrichen?« Kovacs war verwirrt. »Von unserer Liste«, sagte Eleonore Bitterle.
»Von welcher Liste? Warum weiß ich nichts davon?«
»Weil du dich nicht gern mit Kinderkram herumschlägst. Wie wir soeben hörten.«
Kovacs brummte vor sich hin. Die Geschichte mit der kleinen Schmidinger war auch ihm nahegegangen. Im Vergleich dazu erschien ihm die aktuelle Angelegenheit banal. Wer schlug Kinder? Alle. Reihum und täglich. Vielleicht nicht genau so, wie man ihn seinerzeit geschlagen hatte, mit Hosenriemen und Weidenrute, aber man tat es immer noch. Was denn auf dieser Liste stehe, fragte er schließlich.
Straftaten gegen Minderjährige, häusliche Gewalt, Anzeigen der Unfallabteilung – was einem halt dazu einfalle, sagte Sabine Wieck.
»Wie viele Verdächtige macht das?«
»Einhundertsiebzehn.«
»Na eben.«
»Was heißt na eben?«, fragte Wieck, und Kovacs sagte, na eben, alle schlügen ihre Kinder, auch wenn ständig das Gegenteil behauptet werde.
»Schlägst du dein Kind?«, fragte Bitterle, und Kovacs antwortete: »Das kann ich dir morgen sagen. Vielleicht.«
Eleonore
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