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Das Matrazenhaus

Das Matrazenhaus

Titel: Das Matrazenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paulus Hochgatterer
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vorauseilenden Angriff plus die Reaktionsbildung als dynamisches Grundprinzip: Mit dem, was dir droht, bedrohe die anderen; mit dem Richter zum Beispiel oder mit der Polizei. Je kleiner die Kinder am Beginn der Tortur gewesen waren, desto sicherer waren die Männer: Ein missbrauchter Vierjähriger war vor Gericht später nicht mehr zu verwerten. Eine Schulanfängerin, der man lang genug sein Ding in den Mund gesteckt hatte, blieb unter Garantie bei jeder Befragung stumm. Sabrinas Vater war nur mittelsicher. »Vielleicht hole ich ihn mir«, sagte Horn. »Tu das«, sagte Christina. Ab und zu, wenn die Kinder ausreichend geschützt waren, fanden Gespräche in Horns Zimmer statt, die es danach offiziell nie gegeben hatte. Horn wusste nicht, ob sie sinnvoll waren, er fühlte sich hinterher jedenfalls besser. Wenn ihn jemand fragte, was er denn mit diesen Herren bespreche, sagte er, er bespreche gar nichts, er lasse sie lediglich bestimmte Dinge wissen. Er beginne immer mit demselben Satz: »Wissen Sie, ich bin auf dem Land aufgewachsen, inmitten einer Horde von Kindern. Wir waren in Banden organisiert und ich war immer der Stärkste.«
    Das Nette am Konferenzraum der Kinderabteilung war, dass er sich in der äußersten Südwestecke des Baues befand, unmittelbar über dem Steilabfall des Hügels, und man den Eindruck hatte, er rage direkt über den Fluss hinaus. Genau gegenüber erstreckten sich oberhalb des Uferabbruches die Reste der alten Stadtmauer, mittendrin der eine gedrungene Rundturm mit dem schiefergedeckten Kegeldach, der ohne jede historische Fundierung das Münzmacherhaus hieß. Ein Stück westlich begann der Schilfgürtel des Achenabflusses, dahinter lag dunkelgrün der See.
    Weil ich genau das sehen will, bin ich hier, dachte Horn, die Bewegungen des Schilfs, die Türme der Stiftskirche, das Münzmacherhaus, die Konglomeratschichten des Flussufers und die Silhouette der Kammwand. Den Leuten, die verächtlich etwas von Kleinbürgerlichkeit und Idylle sagten, hielt er entgegen, wer sich gegen die Idylle aufplustere, wehre in Wahrheit die eigenen Sehnsüchte nach Geborgenheit ab, er wisse das inzwischen, denn er sei seit mehr als zwanzig Jahren mit einer militanten Verfechterin der Idylle verheiratet, und außerdem gehe es ihm ausnahmsweise tatsächlich um die Oberfläche, also um den Blick auf die Dinge. Im Leben bleibe nichts ohne Folgen, sagte er, vor allem nicht das, worauf man schaue, tagtäglich und manchmal von früher Kindheit an; daher verhalte sich ein Mensch, der in einem engen Tal aufwachse und stets den Kopf heben müsse, um an einen Horizont zu gelangen, anders als zum Beispiel ein Inuit aus Grönland oder ein Mongole. Wenn dann jemand sagte, diese Ansicht werde vermutlich bei den Bewohnern enger Täler nicht besonders populär werden, antwortete er, Popularität sei in der Erklärung der menschlichen Psyche kein Kriterium.
    Neben Renate Mutz und Christina war Lisbeth Schalk da, die in der Regel die testpsychologischen Untersuchungen bei Kindern machte, außerdem Strasser, der Chef der Kinderabteilung, Roman Wagner, sein Ambulanzoberarzt, und Evelyn Heimerle, seine stellvertretende Stationsschwester. Tamara Shafar, die Kindergynäkologin, kam wie immer als Letzte, versuchte mit den Fingern ihr Kraushaar zu ordnen und schimpfte halblaut über Jarovsky, ihren Chef, der sie wieder einmal für den ersten Operationsblock am Vormittag eingeteilt gehabt hatte. Dabei kannte er den Termin der Kinderschutzgruppe. Jarovsky war ein hypomanischer Chaot, aber das waren in den operativen Fächern ja viele.
    Sie sei so in Fahrt, da solle sie doch bitteschön gleich den Anfang machen, sagte Wagner. Exakt auf eine derartige Bemerkung habe sie gewartet, fauchte Tamara Shafar und kramte wütend in ihren Aufzeichnungen. Wenn da nicht etwas wäre, das sie wirklich besprechen wolle, würde sie auch auf der Stelle wieder gehen. Wagner hob beschwichtigend die Hände und versprach hoch und heilig, auf pädiatrische Spötteleien zu verzichten. Der sarkastische strohblonde Preuße stand auf die kleine ruppige Halbägypterin mit ihren Glutaugen, das sah jeder. Vermutlich sah es auch Wagners Freundin, die als Hebamme an derselben Abteilung arbeitete wie Shafar. Horn stellte sich vor, wie die beiden Frauen einander gegenüberstanden, angespannt und misstrauisch, und wie sie schließlich abdrehten, eine nach links, die andere nach rechts, ohne ein Wort. Dann blickte er zu Lisbeth Schalk, die schräg gegenüber saß, und

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