Das Matrazenhaus
genommen hatte es in seiner Kindheit zwei Kategorien von Prügeln gegeben, die kalkulierbaren und die weniger kalkulierbaren. Die kalkulierbaren waren an schlechte Schulleistungen geknüpft gewesen, an Frechheiten oder ein Nein, wenn es dem Alten grad nicht passte. Sie wurden bis zur vierten Klasse Volksschule mit einem dünnen Weidenstock verabreicht, danach mit dem Riemen. Im Wesentlichen lief diese Art der Züchtigung bei allen seinen Freunden ähnlich, außer bei Helmut Grimm und Walter Dorner, die beide Lehrerkinder waren und anders erzogen wurden. In Summe führte sie lediglich dazu, dass die Verachtung den Eltern gegenüber so lange zunahm, bis man guten Gewissens seine Sachen packen und ausziehen konnte. Die andere Art war gefährlicher gewesen. Ab und zu war es der Mutter gelungen, ihm ein Zeichen zu geben, ein Zukneifen der Augen oder eine hastige Bewegung der Hand: Hau um Gottes willen ab! , meistens jedoch war die Sache ohne Ankündigung über ihn hereingebrochen. Ambidexter hießen die Menschen, die gleichermaßen links wie rechts den Stift oder den Suppenlöffel führen konnten, das wusste er von Marlene. Manchmal besaßen sie andere ungewöhnliche Begabungen, Melodien merken, Kunstpfeifen oder Telefonbücher auswendig hersagen. Sein Vater konnte beidhändig zuschlagen, hintereinander oder simultan, und man wusste selbst den Bruchteil einer Sekunde vorher nicht, von welcher Seite das Unheil zu erwarten war. Das Gefühl, wenn diese groben Hände in seinem Gesicht landeten, flach oder zur Faust geballt, konnte er nach wie vor reproduzieren, ebenso, dass das Schlimmste nicht der Schmerz gewesen war oder die Angst davor, erschlagen zu werden, sondern die bildhafte Vorstellung der väterlichen Finger: wie dick sie waren, wie aufgetrieben an den Mittelgelenken und wie unglaublich rot, röter noch als sein Gesicht. Hinterher war er an der Wand des Schuppens gehockt, das sah er auch noch genau, das Blut war ihm von der Nase getropft und es hatte ihm vor diesen Fingern gegraust. Den Blick hatte er auf den Waldrand jenseits des obersteirischen Wiesengrabens gerichtet gehabt und auf ein Reh gewartet. Es war aber nie eins gekommen.
Links tauchten die Hallen der Geflügelfarm auf. Seit Schilcher auf Bodenhaltung umgestellt hatte, wurden die Außenwände nicht mehr mit Schriftzügen verziert. Kovacs hatte die Sprüche gemocht: Lasst die Hühner los! Mögen Sie Eier, die von nackten Sklaven gelegt werden?! Fragen Sie Schilcher, wo er sein Frühstücksei kauft! Sein Lieblingsspruch war allerdings eindeutig Dann doch lieber gleich Tohfu! gewesen, Tohfu mit stummem h. Schilcher hatte wiederholt Anzeige wegen Sachbeschädigung und gefährlicher Drohung erstattet und über seine Kontakte zu Eyltz sogar eine spurensichernde Tatortaufnahme durchgesetzt. Mauritz war mit seinen Spezialsprays und Lumineszenzlampen angerückt, hatte sich zwei Tage lang Zeit gelassen und am Ende Schilcher unter vier Augen mitgeteilt, es fänden sich leider nur seine eigenen, Schilchers, Fingerabdrücke, was bedeute, dass angesichts des Schadenersatzbegehrens bei seiner Versicherung einzig eine Anzeige wegen versuchten Versicherungsbetruges gegen ihn selbst die Konsequenz sein könne. Daraufhin war die Angelegenheit ausgesprochen rasch zu den Akten gewandert.
Er nahm die Abzweigung nach Waiern, fuhr durch den Ort und schwenkte knapp nach der Kirche auf die alte Uferstraße in Richtung Westen ein. Das Schiebetor zu Fred Leys Bootsbauwerkstätte stand offen. Zwei weiße Katamaranrümpfe lagen aufgebockt nebeneinander, das war im Vorbeifahren zu sehen. Hier hatte Kovacs seine eigene Jolle den Winter über liegen, und wenn irgendeine Reparatur fällig war, erledigte Ley sie, ohne groß nachzufragen. Unmittelbar daneben das Vereinshaus des Segelclubs Waiern. Fred Ley war seit mehr als zwanzig Jahren Präsident. Manche Dinge folgten einer einfachen Logik. Der Zugang zum Seerestaurant, der Supermarkt, die Volksschule. Hier gab es keine schwarze Glocke, obwohl man mit Sicherheit auch in Waiern Kinder schlug. Der Landmaschinenhändler mit der völlig überdimensionierten Ausstellungsfläche, danach drei Siedlungsstraßen, die jeweils nach Norden gerichtet waren. Kovacs nahm die dritte. Die spitzgiebeligen Häuser sahen alle gleich aus, auch die Vorgärten unterschieden sich wenig: Forsythien, Flieder in Weiß und Lila, Narzissen, Traubenhyazinthen und dort und da die ersten Schwertlilien. Vor Nummer zwölf lief ein Springbrunnen mit einem
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