Das Matrazenhaus
Bitterle erläuterte Sen Wus Verletzung, die Schlagmarke auf der Haut, die auf einen Stock hindeute, und die Tatsache, dass das Hämatom relativ wenig ausgeprägt war, was wiederum als Zeichen für eine nicht allzu hohe Hiebstärke zu gelten habe. Zugleich könne man die Eltern als Täter wohl ausschließen, da ihnen die Krankheit des Sohnes bekannt sei und sie daher nicht aufs Schlüsselbein, sondern eher aufs Gesäß oder ins Gesicht schlagen würden. »Da hat er aber Glück, unser kleiner Chinese«, sagte Kovacs. »Du nimmst das Ganze nicht ernst«, beklagte sich Eleonore Bitterle. »Und ob«, sagte Kovacs, »was sagt er eigentlich selbst dazu?«
»Sen Wu? Der blickt zu Boden und sagt gar nichts.«
»Wie die anderen?«
»Stimmt, wie die anderen.«
Kovacs fragte, was die drei Kinder gemeinsam hätten, außer das Alter, und Eleonore Bitterle sagte, genau das sei ein Irrtum, denn hier liege ein Unterschied, keine Gemeinsamkeit. Sen Wu gehe nämlich in die zweite Klasse Volksschule und nicht in die erste wie Felix Szigeti und Britta Kern, und wer Kinder in diesem Alter kenne, wisse, dass das alles andere als egal sei. Ansonsten lebe Britta Kern mit ihrer kleinen Schwester bei der Mutter, Sen Wu mit seinen beiden Schwestern bei den Eltern, einzig Felix Szigeti sei ein Einzelkind, Ehe der Eltern aufrecht. Sen Wus Befragung durch Raffael Horn sei im Übrigen schon avisiert. »Wie bei den anderen?«, fragte Kovacs.
»Jawohl, wie bei den anderen.«
»Und was hat Horn bis jetzt herausgefunden?«
»Im Grunde nichts«, sagte Sabine Wieck. »Wofür brauchen wir ihn dann?«, fragte Kovacs.
»Weil es sich bei einem Psychiater besser macht, wenn er nichts herausfindet, als bei einem Polizisten.«
Außerdem stimme das nicht so ganz, sondern Horn habe festgestellt, dass Felix Szigeti wie auch Britta Kern nicht im engeren Sinn traumatisiert wirkten und trotzdem voller Angst, so, als seien sie verpflichtet und bedroht zugleich. Felix habe gesagt, wenn er spreche, passiere ihm das Gleiche, und Britta habe überhaupt die Lippen aufeinandergepresst und nur den Kopf geschüttelt. » Wenn du nicht den Mund hältst, hau ich dich noch einmal, aber diesmal richtig. Das bedeutet das Gleiche«, sagte Kovacs. »Ich weiß nicht«, sagte Sabine Wieck.
»Was weißt du nicht?«
»Mir ist das zu einfach.«
Die Umstände seien manchmal einfach und besonders das Schlagen von Kindern gehöre nicht zu den schwierigen Dingen im Leben, sagte Kovacs. Genau, und weil es so einfach sei, schlage man Kinder in der Regel nicht auf den Rücken, die Schultern und den Kopf, wie Felix und Britta berichtet hätten. »Kinder schlägt man überallhin«, sagte Kovacs. Außerdem wisse keiner, ob es die Wahrheit sei, was die beiden da erzählt hätten. »Dem Volksmund nach sprechen Kinder und Narren die Wahrheit«, sagte Eleonore Bitterle. Kovacs lachte laut auf. »So ein Unsinn«, rief er, »Kinder lügen, das weiß jeder. Ich habe als Kind gelogen, ihr habt gelogen und die Felixe und Brittas dieser Welt lügen auch.« »Ein abgeschlagenes Schlüsselbein lügt nicht«, sagte Eleonore Bitterle und Ludwig Kovacs fiel darauf keine Antwort ein.
Christine Strobl stand in der Tür und wirkte genervt. Es hätten sich seit dem Dienstschluss des Vortages zweiunddreißig Nachrichten auf dem Anrufbeantworter angesammelt, sagte sie, darunter eine von null Uhr siebenundzwanzig, eine von zwei Uhr neun und eine von Punkt halb vier, also sichtlich von Menschen, deren primäres Problem die Schlaflosigkeit zu sein scheine. Bei gut fünfzig Prozent der Anrufe handle es sich um völlig unkonkrete Beschuldigungen gegenüber Nachbarn oder geschiedenen Ehepartnern. Ein Mann habe zum Beispiel aufs Band gesprochen, seine Ex besitze das Format einer Glocke, kleide sich gern in Schwarz und tendiere zur Gewalt Schwächeren gegenüber. Der Rest habe überwiegend einen rassistischen Hintergrund: die Muslime, deren Lieblingsbeschäftigung es bekanntermaßen sei, Kinder zu malträtieren – die eigenen bilde man zu Selbstmordattentätern aus und die fremden nehme man trainingshalber als Opfer, und natürlich die Chinesen, die sowieso drauf und dran seien, die Weltherrschaft an sich zu reißen. Zwei Nachrichten seien aus ihrer Sicht interessant, sagte Christine Strobl. Erstens habe jener Zwei-Uhr-neun-Anrufer, der im Übrigen einen leicht verworrenen und paranoiden Eindruck mache, gemeint, er befasse sich sein Leben lang mit Geheimbünden und es gebe jede Menge mit der Farbe Schwarz
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